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Walking Mad

Choreografien von Edward Clug und Johan Inger

Dauer ca. 1 Std. 20 Min.

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Trailer «Chamber Minds»

Wir freuen uns, dass wir eine verkleinerte Version der geplanten Ballett Premiere Walking Mad mit zwei statt drei Stücken und mit Musik vom Tonband zeigen können. Nachdem wir für die verkleinerte Version einen anderen Verkaufspreis angesetzt haben und auch hier nur 50 Gäste zugelassen sind, erscheint es uns das gerechteste Vorgehen, auch für diese Termine alle Karten zu stornieren und im freien Verkauf neu anzubieten. Wir bitte Sie um Ihr Verständnis für dieses Verfahren.

«Hier leise Ironie, dort absurdes Theater. Hier abstrakter Tanz, dort eine Geschichte, die sich, kaum dass sie sich zu entfalten beginnt, wieder auflöst. Zwei verschiedene Bewegungssprachen, die von jedem und jeder der Tänzer scheinbar mühelos und hochmusikalisch umgesetzt werden.»
Die
NZZ zu Walking Mad am 3. Mai 2021

«The event marked a welcome back, and was testament to the excellence of the Zurich Ballet company, especially under such unusual circumstances.» Bachtrack zu Walking Mad am 2. Mai 2021

Fotogalerie

 

Walking Mad


Interview


Ich weiss selbst nicht, ob es ein Traum ist

Zum ersten Mal tanzt das Ballett Zürich ein Stück von Johan Inger. In «Walking Mad» verschwimmen die Grenzen von Tanz und Theater. Zur berühmten Musik von Maurice Ravels «Boléro» treffen drei sehr unterschiedliche Frauen aufeinander. Michael Küster hat mit dem schwedischen Choreografen über seine Karriere und das Stück gesprochen.

Johan Inger, Sie stammen aus Schweden und gelten heute als einer der gefragtesten Choreografen aus Skandinavien. Ist dieses «skandinavisch» in Bezug auf den Tanz eigentlich eine künstlerische Kategorie oder nur eine Marketing-Erfindung?
Genau wie die vielen Referenzen und Erfahrungen aus Kindheit und Jugend, die uns als Menschen geprägt haben, trägt man, glaube ich, auch das Land, aus dem man kommt, in sich. Was die Choreografie betrifft, so stellt sich die Situation für Skandinavien und insbesondere für Schweden sehr übersichtlich dar. Schweden ist ein grosses Land mit relativ wenig Menschen. Ich sehe hier eine Verbindungslinie, die von Birgit Cullberg, der Lichtgestalt des schwedischen Balletts, über Mats Ek zu Choreografen wie mir oder auch Alexander Ekman führt. In unserer Tanzsprache gibt es durchaus so etwas wie einen «Swedish Approach».

Woran kann man diesen schwedischen Zugang festmachen?
In unserer choreografischen Sprache entdecke ich oft etwas sehr Erdverbundenes und Bodenständiges. Es gibt eine gewisse Einfachheit und Direktheit, die Verkomplizierungen zu vermeiden sucht. Ich empfinde unsere Kunst als sehr «anti-barock», was sicher unseren Traditionen, unserer Volksverbundenheit geschuldet ist. Oft findet sich eine Leichtigkeit und ein sehr eigener Sinn für Humor. Ohne nostalgisch zu sein, wohnt dieser choreografischen Sprache jedoch auch eine gewisse Schwere inne, eine besondere Art von Melancholie, die verbunden ist mit Gefühlen der Einsamkeit und Dunkelheit. Das Ganze ergibt eine sehr spezielle Mischung.

Nach einem ersten Engagement beim Royal Swedish Ballet waren Sie in den Neunziger Jahren einer der charismatischsten Tänzer des Nederlands Dans Theaters (NDT), das damals vor allem von Jiří Kylián geprägt wurde. Wie findet man in dieser Umgebung zu einer eigenen choreografischen Sprache?
Die wenigsten Choreografen verfügen von Beginn an über einen eigenen Stil, eine unverwechselbare Signatur. Die entwickelt sich meist über einen längeren Zeitraum und hängt von den verschiedensten Einflüssen ab. Sie wird in starkem Mass davon bestimmt, was um einen herum passiert und von dem Potential, das man im eigenen Körper trägt. Das Nederlands Dans Theater habe ich damals als ein «Mekka des Tanzes» empfunden. In seiner Blütezeit vereinte es drei Compagnien mit einem jeweils eigenen Profil unter einem Dach. In den insgesamt fünf Ballettstudios passierten gleichzeitig die unterschiedlichsten Dinge. Man machte eine Tür auf, und da war William Forsythe. Hinter der nächsten Tür choreografierte Jiří Kylián, im dritten Studio waren vielleicht gerade Ohad Naharin oder Mats Ek mit einer neuen Kreation beschäftigt. Das NDT war ein Schmelztiegel der interessantesten Choreografen jener Zeit. Ich erinnere mich, wie ich all die verschiedene Einflüsse geradezu aufgesogen habe. Jiří Kylián ist sicher der Choreograf, den ich durch meine tänzerischen Erfahrungen am meisten in meinem Körper trage. «Kyliánesk» ist mein Werk deshalb aber nicht, choreografisch stehen mir Mats Ek oder Ohad Naharin näher.

Wie haben Sie den Schritt vom Tänzer zum Choreografen erlebt?

Die Entwicklung in Richtung Choreografie kann ich nicht von meiner tänzerischen Existenz trennen. Meine erste Choreografie entstand 1995 für das NDT 2, danach habe ich noch bis 2002 in der Compagnie getanzt. Sieben Jahre habe ich also gleichzeitig getanzt und choreografiert. Dabei habe ich viel aus meinem eigenen Tanz herausgezogen. Anders als viele Kollegen habe ich in meinem Tanzen kein Defizit verspürt, das ich mit dem Choreografieren irgendwie kompensieren wollte. Wenn ich Musik hörte, sah ich Bilder vor meinen Augen und entwickelte Ideen dazu. So hat das Choreografieren angefangen. Als ich noch beim Royal Swedish Ballet tanzte, war keine Zeit dafür. Aber als ich beim NDT anfing, bin ich buchstäblich in eine andere Welt eingetaucht, weil dort im Grunde alle Tänzer auch choreografiert haben. Da habe ich mir gesagt: Versuch es! Mein erstes Stück war ein zweiminütiges Duett, und ich weiss noch wie heute, dass ich mich nie zuvor so ausgeliefert gefühlt habe, nie einen solchen Adrenalinstoss, nie so viel Angst und Aufregung gespürt habe. Danach war ich wie süchtig nach diesem extremen Gefühl.

Nach dem Ende Ihrer tänzerischen Laufbahn haben Sie von 2003 bis 2008 das Cullberg Ballet in Stockholm geleitet, eine Mammutaufgabe…
Das stimmt. Das Cullberg Ballet war in Schweden über lange Jahre das Synonym für Tanz schlechthin. Birgit Cullberg hatte es 1967 gegründet. Als Teil des Rijkstheaters tourte die Compagnie jahrelang durch alle Teile des Landes und verhalf dem Ballett als Kunstform zu grosser Popularität. Das Cullberg Ballet war eine wirkliche Marke, und jeder in Schweden hatte irgendeine Beziehung zu diesem Ensemble oder zur Cullberg-Familie, zu Birgit, ihrem Sohn Mats Ek oder seinem Bruder Niklas, der ebenfalls ein toller Tänzer war. Wann immer man in Schweden über Tanz sprach, kam die Rede irgendwann auf die Cullbergs. Ein grosses Erbe, das man da auf seinen Schultern getragen hat… Diese fünf Jahre waren eine sehr produktive Zeit. Bei jedem neuen Stück machte man im Grunde da weiter, wo man aufgehört hatte. Wir waren sehr kreativ.

Dennoch haben Sie sich dann für eine Laufbahn als freischaffender Choreograf entschieden.
Tatsächlich kommt diese Arbeitsweise meinem Naturell mehr entgegen. Ich werde nicht abgelenkt von administrativen Verpflichtungen, sondern kann mich voll und ganz auf das Stück fokussieren, das ich erarbeiten möchte. Die Leute freuen sich, wenn ich komme, und aus der Frische jeder neuen Begegnung entsteht viel Energie.

Wie hat sich Ihre choreografische Sprache im Laufe der Jahre verändert?
Meine ersten Stücke beim Nederlands Dans Theater waren in der Regel Teile von dreiteiligen Ballettabenden und durften eine gewisse Länge nicht überschreiten. Ich war sehr an diese kleinteilige Form gewöhnt und habe erst 2015 begonnen, in grösseren Formaten und vor allem auch narrativ zu arbeiten. Das war eine Neuentdeckung für mich. In schneller Folge habe ich zum Beispiel eine Carmen gemacht, habe Peer Gynt, Petruschka und auch einen Don Juan herausgebracht. Das war noch einmal ein wichtiger Schritt und ist bis jetzt jedes Mal eine ganz neue Herausforderung. In meinen Stücken versuche ich, menschlich und vor allem ehrlich zu sein. Ich erlebe sie jedes Mal wie eine Reise, bei der man verschiedene Stationen durchläuft und viel über sich selbst erfährt.

Das geht den Tänzerinnen und Tänzern in Ihren Stücken hoffentlich ähnlich. Was erwarten Sie von ihnen?
Da zu sein, wenn es darauf ankommt und Präsenz zu zeigen. Wenn Tänzer die Essenz eines Stückes, das wir erarbeiten, in sich wiederfinden und sie mit ihrer eigenen Authentizität auf die Bühne bringen, macht mich das glücklich.

Mit Walking Mad tanzt das Ballett Zürich jetzt ein Stück, das bereits 20 Jahre alt ist und zu einer Art «Signature Piece» von Johan Inger geworden ist. Was hat es heute mit Ihnen zu tun?
Das Stück hat immer noch eine grosse Bedeutung für mich, und wahrscheinlich würde es ganz ähnlich aussehen, wenn ich es heute entwickeln würde. Wenn man ein Vierteljahrhundert choreografiert hat, erkennt man im Rückblick, dass es neben den Erfolgen auch mittelmässige Stücke und vielleicht sogar Flops gegeben hat. Aber zu Walking Mad kann ich auch heute noch stehen, und die Begeisterung, mit der die Tänzerinnen und Tänzer aus den unterschiedlichsten Compagnien dieses Stück tanzen, ist jedes Mal eine schöne Bestätigung.

In Walking Mad verschwinden die Grenzen zwischen Tanz und Theater. Woher kam die Inspiration für dieses Stück?
2001 sollte ich für das Nederlands Dans Theater ein Stück mit Orchester kreieren. Irgendwie fiel mir Maurice Ravels Boléro in die Hände, und ich erinnerte mich augenblicklich an einen Fernsehbeitrag, den ich Jahre zuvor gesehen hatte. Noch in Schwarz-Weiss dirigierte Sergiu Celibidache damals das weltberühmte Stück. Nachdem er anfangs noch zurückhaltend und beinahe minimalistisch in seinen Bewegungen war, geriet er mit dem immer weiter anschwellenden Crescendo buchstäblich in Rage. Sein Dirigat wurde immer gestenreicher und extremer, seine Frisur geriet aus der Façon, und am Schluss schien es, als würde Celibidache verrückt werden. Die Art, wie mir die Musik präsentiert wurde, beeindruckte mich vor allem in ihrer Theatralität. So eine Verrücktheit wollte ich in Walking Mad einfangen.

Wie ist Ihnen das gelungen?
Für die Bühne benötigte ich eine deutliche Brechung des musikalischen Minimalismus’, einen Kommentar dazu, dass die Musik im Grunde nur eine Konstante in dem Stück darstellt. Die bewegliche Wand, die das Bühnenbild bestimmt, ist von symbolischer Gestalt und gab mir die Möglichkeit, mit unterschiedlichen Räumen zu spielen: von offen und gross dimensioniert bis eng und begrenzt. Das war sehr hilfreich bei der Strukturierung des Stückes. Die Hauptdarsteller, drei Tänzerinnen und ein Tänzer, tanzen und spielen in den sich verändernden Räumen. Sie begeben sich auf eine Reise, auf der sie die verschiedensten Stadien zwischen Verrücktheit und Gewalt durchlaufen. Die Wand ist dabei ein wesentlicher Bestandteil der Choreografie.

Wo kommen die Hauptdarsteller am Ende ihrer Reise an?
Zunächst gibt es einen Mann, der anfangs aus dem Publikum kommt, auf die Bühne tritt und seine eigene Reise beginnt. Er schreitet durch das Stück wie ein Wanderer. Neben ihm wird Walking Mad von drei sehr unterschiedlichen Frauencharakteren geprägt. Sie haben etwas von Tschechows Drei Schwestern. Ich wollte zeigen, dass jede von ihnen auf irgendeine Weise blockiert ist oder in ihrer Lebenssituation feststeckt. Die Jüngste zum Beispiel braucht ständig Bestätigung und Wertschätzung, um sich gut fühlen zu können. Die Zweite geht sehr zerstörerisch mit sich und den Männern in ihrem Leben um. Aber irgendwie kommen diese beiden Frauen in ihrem Leben weiter, nur der Letzten gelingt das nicht. Sie verharrt im Gestern und bleibt, wo sie sich befindet. Im Kontrast dazu sind die Männer – mit einer Ausnahme – eher als Energie, als Masse zu sehen. Sie kreieren im Lauf des Stücks immer neue Situationen.

Wie sind Sie mit Ravels Komposition umgegangen, und welche Rolle spielt Arvo Pärts zerbrechliches Klavierstück Für Alina in diesem Kontext?
Das ganze Stück war eine grosse Herausforderung für mich. Ich musste mich zu Ravels Musik in Beziehung setzen, verbunden mit den Erwartungen des Publikums und meinem eigenen Wunsch, etwas Unvorhersehbares zu schaffen. Wenn man sich mit dem Boléro beschäftigt, kommt man an der sexuellen Aufgeladenheit dieser Musik nicht vorbei. Deshalb war mir schnell klar, dass ich in meinem Stück über die Mechanismen in den Begegnungen von Männern und Frauen erzählen will. Und ich wollte auf keinen Fall mit dem bekannten Boléro-Schluss enden. Das wäre zu einfach gewesen. Jeder weiss ja im Grunde, wie das Stück abläuft. Deshalb war es mir sehr wichtig, die Erwartungshaltung auf Seiten des Publikums zu unterlaufen. Mit Hilfe der Musik von Arvo Pärt habe ich eine Art Echo kreiert. Nach dem Ende des Boléros bleibt nur noch eine Frau übrig – zur fragilen Musik von Pärts Klavierstück Für Alina. Nicht mutig genug, den Sprung zu wagen, wird die Wand für sie zur unüberwindbaren Grenze.


Probentrailer «Walking Mad»

Interview


Wenn die Balance in Schieflage gerät

Voller Witz und Überraschungen steckt Edward Clugs Stück «Chamber Minds», das 2015 für das Ballett Zürich entstanden ist. In einem von Saiten durchzogenen Raum geraten die Tänzerinnen und Tänzer immer wieder in unberechenbare Situationen. Ein Gespräch mit dem slowenischen Choreografen.

Edward, das Stück Chamber Minds hast du 2015 für das Ballett Zürich kreiert. Damals war es Teil eines dreiteiligen Abends, der unter dem Titel Strings Kompositionen für drei verschiedene Streicherbesetzungen vereinen sollte. Auch deine Choreografie hast du direkt aus dieser Vorgabe entwickelt.
Ich habe mich sehr gefreut, als Christian Spuck mir damals ein neues Stück zu einem Thema vorschlug, das meinem musikalischen Spektrum sehr entgegenkam. Milko Lazar, den ich als Komponisten sehr schätze und mit dem ich in Zürich auch Hill Harper’s Dream und Faust – Das Ballett erarbeitet habe, war begeistert von der Strings-Idee und hat eine Ballettsuite für Cembalo und Violine komponiert. Er selbst ist ein hervorragender Cembalist und war ganz vernarrt in den Klang, den er diesem barocken Instrument zu entlocken vermag und der sich gerade auch im Zusammenspiel mit der Solovioline entfaltet. Beide Instrumente treten in einen intimen Dialog und nehmen die barocke Tradition der Suite auf. Sie hat den Tanz ja buchstäblich in den Genen, denn bei ihren Sätzen handelt es sich in der Regel um echte oder stilisierte Tänze.

Wie muss man sich die Entstehung einer neuen Choreografie von Edward Clug vorstellen?
Schon lange, bevor ich im Ballettsaal mit den Tänzern zu proben anfange, versuche ich eine Struktur für das Stück zu entwickeln, die uns einen dramaturgischen und zeitlichen Ablauf vorgibt. Dabei geht es noch gar nicht um exakte Sekundenvorgaben, sondern viel mehr um das Erspüren von Momenten der Intensität oder der Stille. Beim Hören der Musik entwickle ich das Gefühl für die konkrete Atmosphäre, in der dann die Architektur des Stückes in Form von Bühnenbild, Bewegungen oder Situationen ihre Gestalt gewinnt.

Welche Rolle spielt die Musik für deine Choreografie?
Aus der Musik beziehe ich meine erste Inspiration, die Grundstimmung einer zu choreografierenden Situation. Die Situation selbst entsteht dann aber aus der Bewegung heraus und entwickelt sich meistens spontan und instinktiv. Auch wenn man so etwas wie eine Basisatmosphäre erspürt, kann man allerdings nie ganz sicher sein, wo man letztendlich ankommen wird. Es gibt immer auch den Moment der Unvorhersehbarkeit. Wenn die eigentliche Choreografie entsteht, geschieht das ohne die Musik, die allenfalls als Rhythmus präsent ist. Die direkte Begegnung von Tanz und Musik geschieht dann wie zufällig. Bei den Momenten, wo man eine «Deckungsgleichheit» spürt und das Gefühl hat, dass die Musik hier absolut zur Bewegung passt, verweile ich mit den Tänzern, um weiter am Detail zu feilen und eine Tiefenschärfung zu erreichen.

Nicht nur die Musik, sondern auch das Bühnenbild von Marko Japelj nimmt das Thema Strings auf, indem die Bühne wie von den gespannten Saiten eines Streichinstruments durchzogen ist. Welche Konsequenzen hat das für die Bewegungen der Tänzer?
Markos Installation durchspannt den Bühnenraum mit höhenverstellbaren Saiten und kreiert dadurch unterschiedliche Formen und Räume, in denen sich die Tänzer bewegen sollen. Sie müssen sich zum «Eigenleben» der Saiten ins Verhältnis setzen. Bei den Proben im Ballettsaal war das nur ein Modell, so dass wir uns zunächst nur improvisierend vorstellen konnten, wie das funktionieren würde. Erst bei den Bühnenproben haben wir dann gesehen, welche Möglichkeiten wir mit den Tänzern tatsächlich hatten, um mit dem Bühnenbild zu interagieren. Natürlich hatte ich Bilder und Vorstellungen in meinem Kopf, wie das aussehen könnte, aber es war lange Zeit offen, was wir davon wirklich umsetzen können würden oder eben auch nicht. Ich freue mich immer, wenn aus einem Element des Bühnenbildes oder aus einem Bestandteil der Kostüme eine unverhoffte Möglichkeit für Bewegung entsteht, die man anfänglich nicht erwartet oder gar beabsichtigt hat. Vielleicht erinnern Sie sich an die Skistiefel, mit denen die Tänzer in Hill Harper’s Dream bekleidet waren und die durch die überraschende Eigenart der Bewegung einen völlig unerwarteten poetischen Kontext entstehen liessen. Die Fragilität und Unbeholfenheit der Tänzer in diesen Schuhen vermittelte eine ganz ungewöhnliche Emotionalität. In Chamber Minds eröffnet die Struktur des Raumes mit Saiten, Linien, Gleisen unglaublich viele Assoziationsfelder. In dem von Saiten durchzogenen Raum scheint Bewegung mitunter unmöglich zu sein, und die Tänzerinnen und Tänzer müssen sich immer wieder mit unerwarteten Situationen auseinandersetzen.

Im Prozess der Entstehung des Stückes waren das aber nicht die einzigen Schwierigkeiten, mit denen du zu kämpfen hattest.
Die Crux bei fast allen Theaterproduktionen liegt ja vor allem darin, dass die Ideenfindung mit Bühnen- und Kostümbildner in enger Vertrautheit stattfindet, während bei der Umsetzung jeder auf sich gestellt ist und unabhängig vom anderen arbeiten muss. Ich choreografiere ohne Bühnenbild, das Bühnenbild wird ohne die Choreografie gebaut, und die Musik wurde ohne mich komponiert. Man sehnt den Tag herbei, an dem alle Beteiligten erneut zusammenkommen und hoffentlich erneut zu einem gemeinsamen Atem finden.

Auffällig in Chamber Minds ist das immer wiederkehrende Spiel mit den Geschlechterrollen.
Da ging es mir vor allem darum, eine andere Sichtweise auf das Stück zu bekommen. Ich choreografiere aus einer männlichen Perspektive. Zum Beispiel ein Duett, in dem ein Tänzer seine Partnerin führt. Wenn das Material sitzt, gehe ich einen Schritt zurück und lasse die beiden ihre Rollen tauschen. Der männliche Tänzer übernimmt den weiblichen Part und umgekehrt. Wenn sie bzw. er dann das eigentlich für den Partner bestimmte Bewegungsmaterial umsetzen muss, bekommt die jeweilige Situation eine ganz andere Bedeutung. Das muss gar nicht lange dauern, weil der Körper da ja nur bis zu einer bestimmten Stelle mitspielt. Beim Choreografieren ist das in etwa so, als würde man zweigleisig fahren. Ich versuche, den Mann und die Frau gleichzeitig zu verstehen, sie in der gleichen Zeit gleichberechtigt zu erfahren. Ich bin selbst immer am meisten überrascht, was dabei entsteht. Als Choreograf komme ich da ständig zu ganz neuen, ungewöhnlichen Lösungen. Aber auch für das Publikum ist das spannend. Das ist in «Hab Acht»-Stimmung und lauert geradezu auf diese überraschenden Momente. So kommt eine ungewohnte Direktheit und Frische in unsere Kommunikation.

Ähnlich wie in Faust oder Hill Harper’s Dream blitzt an vielen Stellen immer dieser leise, unaufdringliche Edward-Clug-Humor auf. Kann man Humor trainieren?
Sicher nicht. Voraussetzung sind echte Virtuosität und die Ernsthaftigkeit körperlicher Anstrengung. Aber der Humor entsteht spontan aus der Situation heraus, im Idealfall als «Nebenprodukt» einer Choreografie und meist aus Dingen, die «zwischen den Zeilen» stehen. Toll, wenn dieser Humor bei den Tänzern auf fruchtbaren Boden fällt. Leider gehört es zu unserem Beruf, dass wir den spontan erzielten gelungenen Moment für die Aufführung fixieren und proben müssen. Da geht die Spontaneität natürlich verloren. Ich verwende viel Zeit darauf, diese Frische und Unmittelbarkeit zu erhalten. Vieles entsteht zum Beispiel aus dem Verlust von Balance und damit einhergehenden unerwarteten Perspektiven und Blickkontakten zwischen den Tänzern. Wichtig ist mir der theatralische Aspekt in meinen Choreografien. Auch wenn es keine von A bis Z durchzubuchstabierende Handlung gibt, arbeite ich doch gern mit kleinen Handlungsversatzstücken oder Elementen, an denen man sich festhalten und denen man folgen kann. Dieser theatralische Aspekt hilft mir, meine Gedanken zu artikulieren und sie für das Publikum zu übersetzen.

        Das Gespräch führte Michael Küster


Probentrailer «Chamber Minds»