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I vespri siciliani

Dramma in fünf Akten von Giuseppe Verdi (1813-1901)
Libretto von Eugène Scribe und Charles Duveyrier,
italienische Übersetzung von Arnaldo Fusinato

In italienischer Sprache mit deutscher und englischer Übertitelung. Dauer ca. 3 Std. 05 Min. inkl. Pause nach ca. 1 Std. 40 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.

Gut zu wissen

In dieser Inszenierung kommt es zu Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Frauen.

Trailer «I vespri siciliani»

Interview


Ich folge Bildern in meinem Kopf

Der Regisseur Calixto Bieito über seinen Weg, sich einer Oper von Giuseppe Verdi zu nähern, über ein Gemälde von Rubens, Neapel und seine Liebe zum spanischen Surrealismus.

Calixto, du hast dich im Laufe deiner Karriere immer wieder mit den Opern von Giuseppe Verdi auseinandergesetzt. Deine erste Verdi-Inszenierung, Un ballo in maschera 2000 im Teatro Liceu in Barcelona, hat dich über Nacht bekannt gemacht, und deine Inszenierungen von Il trovatore und La traviata an der Staatsoper Hannover haben dort 2004 für Skandal und Abonnements-Kündigungen in grosser Zahl gesorgt. In den letzten Jahren hast du unter anderem Don Carlos in Basel, Macbeth in Frankfurt, Simon Boccanegra in Paris, Aida in Berlin, das Requiem und Falstaff in Hamburg inszeniert. Nun widmest du dich hier in Zürich den Vespri siciliani. Inwiefern hat sich die Art und Weise, wie du dich Verdis Opern näherst, verändert?
In meiner Inszenierung des Trovatore damals in Hannover haben die Figuren ihre Wut auf der Bühne sehr stark ausagiert. Es war sehr realistisch dargestellte Gewalt zu sehen, die damals das Publikum schockiert haben mag, was aber gar nicht meine Intention war. Jedenfalls kann und möchte ich das heute nicht mehr so einfach wiederholen. Kunst ist natürlich keine Entsprechung der Wirklichkeit, sollte aber in meinen Augen dennoch etwas erschaffen, das wir als authentisch empfinden. Schon mit Simon Boccanegra in Paris habe ich versucht, einen anderen Weg zu gehen auf meiner Suche nach Authentizität. Diesen Weg möchte ich nun mit den Vespri siciliani hier in Zürich fortsetzen.

Was heisst das für deine Theatersprache?
Das heisst, dass ich eher Bildern folge, die ich im Kopf habe, und den Erinnerungen aus meiner Kindheit. Im Zusammenhang mit dem Beginn von I vespri siciliani denke ich zum Beispiel an den Tod eines Nachbarn, der an Krebs gestorben ist, als ich noch sehr jung war. Bis heute sind mir die Geräusche präsent, die der Sarg gemacht hat, als er durch das enge Treppenhaus transportiert wurde. Meine Mutter hielt mir die Augen zu, als der Sarg an unserer Wohnung vorbeigetragen wurde, aber natürlich habe ich ihn trotzdem gesehen. Und auch an die trauernde Witwe erinnere ich mich gut, obwohl ich wirklich noch sehr klein war. Eine andere bleibende Erinnerung ist die an eine Frau, die mir immer auf eine sehr besondere Art und Weise über das Gesicht streichelte, wenn wir uns begegneten. Ich fühlte mich sehr unwohl dabei. Erst später erfuhr ich, dass sie ihr Kind bei einem Unfall verloren hatte. Und natürlich hat auch die Kirche einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, nicht nur im positiven Sinn. Vieles in der Kirche machte mir Angst. Zugleich übten kirchliche Rituale und das Singen im Kirchenchor eine grosse Faszination auf mich aus; diese Rituale haben etwas sehr Theatralisches, und die Erinnerung daran hat mich für diese Inszenierung sehr inspiriert.

Du denkst, so jedenfalls empfinde ich es auf den Proben, beim Entwickeln der Inszenierung mehr in Bildern als in Narrativen…
…ja, ich versuche zuerst, Bilder zu finden und aus diesen Bildern dann die Erzählung zu entwickeln. Eines dieser Bilder ist die Darstellung des Raubs der Sabinerinnen von Rubens, es zeigt einen Gründungsmythos der Stadt Rom. Die französischen Besatzer in der Opernhandlung – es sind im Stück tatsächlich nur Männer – sprechen im Libretto diesen Mythos direkt an, um zu rechtfertigen, dass sie die sizilianischen Frauen vergewaltigen; als Besatzer glauben sie, sie hätten das Recht dazu, und die Frauen seien ihr Eigentum. In allen Kriegen wird sexuelle Gewalt als Waffe eingesetzt. Aber auch in sogenannten Friedenszeiten gibt es sie, ich lese in letzter Zeit oft von Gruppenvergewaltigungen in verschiedenen Ländern, in Indien zum Beispiel, aber auch in Spanien. Ich finde das unfassbar brutal und primitiv.

Herz der Oper I vespri siciliani ist die Beziehung zwischen Monforte und seinem Sohn Arrigo – sehr charakteristisch für Verdi, der sich Zeit seines Lebens als Komponist an den Beziehungen von Vätern und ihren Kindern abgearbeitet hat.
Diese Beziehung spielt in vielen Opern von Giuseppe Verdi eine Rolle, in Simon Boccanegra ebenso wie in Don Carlos, La traviata oder Rigoletto. In Vespri siciliani kommt hinzu, dass Arrigo zunächst nicht weiss, dass Monforte sein Vater ist – er hasst ihn, weil er Franzose und der Anführer seiner Feinde ist. Die Geschichte spielt laut Libretto im von den Franzosen besetzten Sizilien im 13. Jahrhundert, und Arrigo ist das Kind einer von Monforte vergewaltigten Sizilianerin. Als er erfährt, dass Monforte nicht nur sein grösster Feind, sondern auch sein Vater ist, ist Arrigo emotional vollkommen überfordert. Zudem ist er einer extremen emotionalen Manipulation ausgesetzt; Monforte ist zwar mächtig, aber zugleich auch sehr einsam, und Arrigo soll nun diese Einsamkeit lindern und für das Glück und das seelische Wohlbefinden seines Vaters verantwortlich sein. Das würde jeden Sohn überfordern! Monforte versucht auf geradezu sadistische Art und Weise, Arrigo emotional zu erpressen: Er droht damit, Arrigos Geliebte Elena hinrichten zu lassen, um Arrigo dazu zu bringen, ihn als seinen Vater anzuerkennen. Daran würden auch seelisch gesündere und emotional stabilere Charaktere als Arrigo früher oder später zerbrechen.

Du hast es gerade angesprochen – Hintergrund für die Konflikte zwischen Arrigo, Elena und Monforte ist die Besatzung Siziliens durch die Franzosen. Verdi schrieb das Stück für die Pariser Oper, später arbeitete er es für Aufführungen in Italien um; wegen der Zensur musste er allerdings den Schauplatz von Sizilien nach Portugal verlegen und den Titel in Giovanna da Guzman ändern.
Zu Verdis Zeit waren die italienische Risorgimento­-Bewegung und die nationale Einigung Italiens sehr präsent, Nationalismus war vorwiegend positiv besetzt. Nach allem, was das 20. Jahrhundert an Katastrophen hervorgebracht hat, wissen wir, dass übersteigerter Nationalismus in Verbindung mit wirtschaftlichen Krisen, Orientierungslosigkeit, Arbeitslosigkeit etc. zu Extremismus und Diktatur führen kann; in Bezug auf Italien denke ich da natürlich vor allem an die faschistische Diktatur Mussolinis. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Nationalismus daher lange Zeit ausschliesslich negativ besetzt. Heute würde ich sagen, es gibt verschiedene Arten von Nationalismus, in manchen Ländern mag er für den Zusammenhalt, den Schutz der Identität notwendig sein. Ein schwieriges Thema, bei dem es keine einfachen Antworten, kein eindeutiges Schwarz oder Weiss gibt. Und ich werde auch nicht versuchen, mit meiner Inszenierung irgendwelche Statements dazu abzugeben. Ich selbst fühle eigentlich keine nationale Identität, ich bin nirgends wirklich zuhause, ausser vielleicht im Humanismus.

Deine Inszenierung von I vespri siciliani ist nirgends konkret verortet; das Bühnenbild zeigt eine abstrakte, halb zerstörte Containerlandschaft, die auch als Silhouette einer durch einen Krieg versehrten Stadt gelesen werden kann…
Nein, das Bühnenbild zeigt auch keinen konkreten Ort. Aber natürlich gibt es Dinge, die meine Bühnenbildnerin und mich inspiriert haben. Vor ein paar Monaten zum Beispiel war ich für ein paar Wochen in Neapel und habe dort Gioachino Rossinis Maometto II. inszeniert. Die Atmosphäre dieser labyrinthischen Stadt mit ihren engen, dunklen Strassen und Gassen, der von spanischen Einflüssen geprägten barocken Architektur und dem grossen Hafen hat mich sehr fasziniert. Andere Inspirationen bekomme ich aus dem Kino. Als ich jung war, habe ich sehr viele italienische Filme gesehen, das italienische Kino war zu jener Zeit mit Pasolini, Fellini und Bertolucci das wichtigste Europas, und nach dem Ende der spanischen Diktatur wurden all diese Filme im Fernsehen gezeigt. Ich erinnere mich besonders an Roma, città aperta von Roberto Rossellini; darin geht es um Italien zur Zeit der deutschen Besatzung. Die Bilder, die mir von diesem und anderen Filmen geblieben sind, mögen sich über die Jahre in meiner Erinnerung verändert haben, aber ich möchte das gar nicht überprüfen, indem ich die Filme jetzt noch einmal schaue, sondern ich greife lieber auf meine Erinnerungen, auf meine subjektive Wahrheit zurück.

Du hast den italienischen Neorealismus von Roberto Rossellini erwähnt; in deiner Inszenierung suchst du aber oft auch nach eher surrealen Bildern.
Ja, das ist vermutlich die spanische und katalanische Kultur, die mich natürlich auch geprägt hat; ich denke da zum Beispiel an Salvador Dalí, aber auch an den hierzulande wenig bekannten und kaum übersetzten Schriftsteller Ramòn del Valle­-Inclán, für mich einer der besten spanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, und natürlich den fantastischen Filmregisseur Luis Buñuel, mit dem mich sehr viel verbindet. Das Wort «vespri» hat ja verschiedene Bedeutungen. Es meint natürlich zunächst den abendlichen Gottesdienst; darauf bezieht sich auch der Titel des Stückes: Die Glocken läuten zur Abendvesper und geben zugleich das vereinbarte Zeichen für den Aufstand gegen die Besatzer, der in einem furchtbaren Massaker endet. «Vesper» bedeutet aber auch Sonnenuntergang, Dämmerung, einen Zustand zwischen Tag und Nacht, zwischen Wachen und Träumen, in dem in unseren Köpfen sehr surreale Bilder entstehen können.

I vespri siciliani stand ja schon einmal auf unserem Spielplan – 2020, doch dann kam die Corona-Pandemie, und wir mussten die Inszenierung verschieben. Vorübergehend dachten wir darüber nach, das Stück in einer reduzierten, eher experimentellen Corona-Fassung auf die Bühne zu bringen, haben die Idee dann aber wieder verworfen. Hat die Arbeit an einer solchen Fassung deine Sicht auf das Stück verändert?
Das Wort experimentell mag ich nicht. Ich würde eher sagen, dass das Nachdenken über das Stück während der Corona­-Pandemie eine sehr gute Übung für mich war, mir zu überlegen, was für mich wirklich die Essenz dieses Stückes ist. Diese gedankliche Arbeit hat zu der sehr reduzierten, konzentrierten Konzeption geführt, die wir jetzt versuchen umzusetzen. Ich habe dabei eine katholische Totenmesse im Hinterkopf, ein liturgisches Ritual. Es geht mir nicht darum, den Kampf der Sizilianer gegen die Franzosen pseudo­realistisch darzustellen, sondern eher um innere Auseinandersetzungen, um die Emotionen und Ängste jedes Einzelnen, ausgedrückt durch die Musik.

Das Gespräch führte Beate Breidenbach.
Dieser Artikel ist erschienen im MAG 113, Juni 2024.
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Fotogalerie

 

Fotogalerie «I vespri siciliani»

Nachgefragt – Beate Breidenbach über «I vespri siciliani»

Worum geht es eigentlich in «I vespri siciliani», liebe Beate Breidenbach, was kann man über die Frauenfiguren in der Oper sagen und was macht das Werk so aktuell? Die Stückdramaturgin unserer neusten Verdi-Oper gibt Auskunft.


Drei Fragen an Andreas Homoki


Verdis dramatische Direktheit

«Wenn das Publikum zufrieden ist, bin ich es auch.»

Herr Homoki, die Oper I vespri siciliani, die am 9. Juni Premiere hat, gehört zu den weniger bekannten Werken von Giuseppe Verdi. Worum geht es?
Es geht um die Themen, um die es ganz oft bei Verdi geht – das Aufbegehren eines unterdrückten Volkes, Freiheits-Sehnsucht, Vater-Sohn-Konflikte und eine Liebe, der die gesellschaftlichen Verhältnisse entgegen stehen. In I vespri siciliani ist das Politische eine starke Kraft. Die Oper wurde 1855 in Paris uraufgeführt, also sechs Jahre bevor die Risorgimento-Bewegung, der sich Verdi stark verbunden fühlte, gesiegt und Italien seine Unabhängigkeit erlangt hat. Der Grundkonflikt besteht zwischen der französischen Besatzungsmacht und dem sizilianischen Volk, das gegen seine Unterdrücker aufsteht. Ein klassisches Verdi-Thema also. Die Oper endet mit einem blutigen Massaker. Es ist trotz der eingewobenen Liebesgeschichte ein eher düsteres, ungemütliches Stück.

Sie haben Calixto Bieito die Regie anvertraut. Warum ist er der richtige für diese Oper?
Er hat Verdi schon an vielen Häusern inszeniert, aber noch nicht am Opernhaus Zürich. Bei uns hat er mit Monteverdis L’incoronazione di Poppea und Eliogabalo von Cavalli zwei Barockopern auf die Bühne gebracht, ausserdem Prokofjews Der feurige Engel und – unvergessen – Bernd Alois Zimmermanns Die Soldaten. Aber auch für Verdis Opern besitzt er genau den richtigen Theaterinstinkt. Verdi hatte kein Interesse am folgerichtigen Erzählen von Geschichten, sondern stürzte sich immer direkt in die dramatischen Konflikte, ohne sich um Plausibilität zu scheren. Diese Direktheit zeichnet auch Calixto aus. Auch er steuert in seinen Inszenierungen unmittelbar die theatralen Situationen an und zeigt in starken Bildern die Figuren in den Extremzuständen, in die sie durch die Stoffe geführt werden. Die Themen Machtausübung und Gewalt können bei Calixto dementsprechend explizit und sehr körperlich ausfallen. Obwohl ich selbst als Regisseur etwas anders arbeite, finde ich diese Herangehensweise sehr legitim und spannend. Die Regie muss eine Übersetzung für die Schärfe finden, mit denen Verdi seine politischen Opern angelegt hat. Nicht umsonst hat er sich immer wieder Probleme mit der Zensur eingehandelt, auch in I vespri siciliani. Gegenüber Calixto wird bis heute manchmal der Vorwurf erhoben, er spekuliere auf den Skandal, wenn er zu drastischen Theatermitteln greift, aber das tut er nicht. Er arbeitet sich immer am Operninhalt ab und versucht den Themen, die verhandelt werden, bis an die Schmerzgrenze nahe zu kommen.

I vespri siciliani ist die letzte Produktion dieser Spielzeit. Können Sie schon ein kleines Saisonfazit wagen?
Ich finde, wir haben eine künstlerisch sehr profilierte Spielzeit präsentiert, von der erfolgreichen Puccini-Rarität La rondine zu Beginn der Saison über die beiden Barockproduktion Platée und L’Orfeo bis zu der faszinierend verrückten Kafka-Oper Amerika von Haubenstock-Ramati war da schon viel Aussergewöhnliches dabei, neben Carmen, einer Lustigen Witwe und der Fertigstellung unseres Rings. Wir haben gerade eine repräsentative Publikumsumfrage ausgewertet, in der unter anderem nach der Zufriedenheit gefragt wurde. Sie hat im Vergleich zur letzten Umfrage von 2018 eine Steigerung von 20 Prozent im höchsten Zufriedenheitswert ergeben, das heisst 61,8 Prozent unserer Zuschauerinnen und Zuschauer sind mit dem Opernhaus «voll» zufrieden. Ich bin voller Dank, dass so viele bei dieser Befragung mitgemacht haben und freue mich über das Ergebnis. Wenn das Publikum zufrieden ist, bin ich es auch.

Dieser Artikel ist erschienen im MAG 113, Juni 2024.
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Hintergrund


Was Männer Frauen antun

Giuseppe Verdis Oper «I vespri siciliani» ist ein blutiges Drama. Sie handelt vom Aufstand der Sizilianer gegen ihre französischen Besatzer und thematisiert auch ein beklemmend aktuelles Thema: die sexuelle Gewalt gegen unterdrückte Frauen. In der Oper stellt der Widerstandskämpfer Arrigo fest, dass er das Kind einer Vergewaltigung ist, die der Anführer der verhassten Franzosen begangen hat. Ein Gespräch mit der Frauenrechtlerin und Ärztin Monika Hauser über sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe und ihre zerstörerischen Folgen.

Monika Hauser, Sie setzen sich seit über 30 Jahren gegen sexualisierte Gewalt ein. Wie kam es dazu?
Ich bin in St. Gallen aufgewachsen, und wir sind in den Ferien immer nach Südtirol in die Heimat meiner Eltern gefahren. Dort hat mir meine Grossmutter schon sehr früh auf langen Spaziergängen von ihren eigenen Gewalterfahrungen erzählt. Mit den Jahren habe ich Sensoren dafür entwickelt. Viele Frauen haben mir ihre Geschichten erzählt. Zunächst meine Tanten, die in diesem auch sehr patriarchal geprägten Südtiroler Kontext aufgewachsen sind. Und später, als junge Gynäkologin, ist mir immer wieder sexualisierte Gewalt begegnet, unabhängig davon, welchen Hintergrund eine Frau hatte, welcher Herkunft, welchen Alters oder Berufs sie war, viele waren von sexualisierter Gewalt betroffen. Gewaltgeschichten zogen sich durch meine ersten Berufsjahre, und mir wurde klar, dass die gesundheitliche Situation von Frauen sehr eng mit ihren Gewalterfahrungen verbunden ist. Da lag es für mich nahe, dass ich die Probleme frauenpolitisch angehen, also nicht nur die medizinische Seite betrachten möchte, sondern nachhaltig an den gesellschaftlichen Strukturen etwas verändern will.

Zurzeit hört und liest man praktisch täglich von sexualisierter Gewalt gegen Frauen, sei es im Zusammenhang mit dem Terrorangriff der Hamas in Israel, dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine oder anderen Regionen in der Welt, in denen kriegerische Auseinandersetzungen stattfinden. Wie kommt es, dass sexualisierte Gewalt so häufig im Krieg eingesetzt wird?
Dies ist nicht neu, aber wir haben heute mehr Bewusstsein für die Problematik. Sexualisierte Gewalt im Krieg kann angeordnet werden. In diesem Kontext wird häufig von sexualisierter Kriegsgewalt als «Waffe» gesprochen. Wir sagen dann, sexualisierte Gewalt wird funktionalisiert zur Erreichung bestimmter politischer oder militärischer Ziele, zum Beispiel zur Terrorisierung oder Vertreibung einer Bevölkerung bis hin zur Auslöschung, wie wir das beispielsweise in Bosnien-Herzegowina, in Ruanda oder auch im Nordirak gesehen haben. Wenn bekannt wird, dass gegnerische Soldaten Frauen vergewaltigen, kann dies ganze Dorfgemeinschaften zur Flucht bewegen. Sexualisierte Gewalt aber ausschliesslich als Kriegstaktik und strategisch angeordnet zu sehen, greift zu kurz. Sexualisierte Gewalt existiert im Kontinuum, das heisst, es gibt sie vor, während und nach dem Krieg. Ihre Ursachen sind die patriarchalen Strukturen unserer Gesellschaften, die Frauen diskriminieren, abwerten und verletzen. Sexualisierte Gewalt ist daher nicht nur im Krieg, sondern auch in sogenannten Friedenszeiten allgegenwärtig. Das heisst, es gibt diese Funktionalisierung im Krieg zur Erreichung bestimmter Ziele, da sexualisierte Gewalt tief in patriarchalen Strukturen verankert ist. Oft wird durch die militärische Führung zusätzlich eine Atmosphäre erzeugt, die zu dieser Gewalt ermutigt. Hinzu kommt, dass im Krieg staatliche Strukturen und Kontrollmechanismen ausser Kraft gesetzt sind und die Täter:innen keine Bestrafung fürchten müssen.

Welche Auswirkungen hat sexualisierte Gewalt auf Gesellschaften?
Sexualisierte Gewalt ist auf grausame Weise effizient, weil sie eine so zerstörerische Wirkung hat auf die einzelne Frau, aber auch auf ihr ganzes soziales Umfeld. Denn der patriarchalen Logik folgend richtet sich sexualisierte Gewalt nicht nur gegen die Frau selbst, sondern auch gegen ihre Familie, ihren Mann und die ganze Gemeinschaft. Wenn die Ehre der Frau entlang dieser Logik an ihre körperliche Unversehrtheit geknüpft ist, «entehrt» sie das, was sie erlebt hat, auch ihre Familie, den Ehemann oder den Vater. Das ist die Botschaft des Täters, und aufgrund dieser patriarchalen Logik ist sie so erfolgreich. Würden die Menschen aus dieser falschen Logik aussteigen, würden sie sich vielmehr darum kümmern, wie es der Überlebenden geht, wie man sie unterstützen und wieder in die Mitte der Gesellschaft aufnehmen kann, wie sie psychisch und körperlich gesunden kann, wie man durch gesellschaftliche Akzeptanz dafür sorgen kann, dass sie sich wieder im Leben zurechtfindet – und dann wäre sexualisierte Gewalt auch nicht in dieser Weise effizient. Wenn aber Frauen nach ihrer Gewalterfahrung noch zusätzlich von ihren eigenen Gesellschaften stigmatisiert und ausgegrenzt werden und ihnen häufig sogar noch eine Mitschuld an der Vergewaltigung zugesprochen wird, ist sexualisierte Gewalt so unglaublich wirksam und zerstörerisch.

Häufig gehen aus Vergewaltigungen ungewollte Kinder hervor. Wie leben solche Kinder Ihrer Erfahrung nach? Wie traumatisiert sind sie – und damit die Zukunft einer Gesellschaft?
Ich erzähle Ihnen eine Geschichte aus Bosnien. Eine unserer ersten Klientinnen 1993 hiess Sabina, sie war damals sehr jung, wurde von mehreren Soldaten vergewaltigt und wurde schwanger. Sie kam dann in unser Zentrum, Medica Zenica, weil sie nicht wusste, wie sie weiterleben sollte. Sie hatte grosse Angst, dass ihre Familie sie ausgrenzen würde. Nach umfassender Beratung hat sie sich schliesslich für dieses Kind entschieden; sie bekam eine Tochter. Sabina hatte das Glück, fachliche Unterstützung zu bekommen, die sie sehr gestärkt hat. Vor ein paar Jahren fand in Sarajevo zu genau diesem Thema eine Konferenz statt – Vergewaltigungen im Krieg und die daraus hervorgegangenen Kinder. Sabinas Tochter ist inzwischen Psychologin und hat zusammen mit anderen Kindern, die aus Vergewaltigungen entstanden sind, einen Verein gegründet, der «Forgotten Children of the War» heisst. Dieser Verein setzt sich gegen die Stigmatisierung von vergewaltigten Müttern und ihren Kindern ein. Dass Sabinas Tochter eine so kraftvolle junge Frau geworden ist, ist auch darauf zurückzuführen, dass ihre Mutter kontinuierliche psychologische Unterstützung bekommen hat. Diese Unterstützung sollte selbstverständlich sein, ist es aber in der Realität noch immer viel zu selten.

In welchen anderen Ländern haben Sie Erfahrungen gemacht mit Kindern, die aus Vergewaltigungen hervorgingen?
Sexualisierte Gewalt ist ein weltweites Problem. So wie in allen patriarchalen Gesellschaften Frauen aufgrund patriarchaler Logiken diskriminiert und abgewertet werden, werden Kinder aus Vergewaltigungen stigmatisiert und ausgegrenzt. In Ruanda beispielsweise drückt sich diese Stigmatisierung etwa dadurch aus, dass manche Kinder die Mahlzeiten nicht mit der Familie am Tisch einnehmen dürfen. Hier setzen unsere Kolleg:innen vor Ort durch Unterstützung der Mütter, psychologische Unterstützung der Kinder und Sensibilisierung der Familien an. Traumatisierung und Stigmatisierung sehen wir auch bei den Jesidinnen im Nordirak, wenn Kinder überlebender Frauen aus IS-Gefangenschaft nach ihrer Flucht in der jesidischen Gesellschaft nicht akzeptiert werden. Um die Überlebenden zu unterstützen und neue Gewalt wirksam zu verhindern, müssen wir an die Ursachen, die tief verankerten patriarchalen Strukturen. Aber das ist eine Mammutaufgabe.

Sie haben vorhin gesagt, die Stigmatisierung von Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, zeigt sich in allen patriarchalen Gesellschaften – also auch heute, in Westeuropa?
Ja, in allen Gesellschaften weltweit, auch in Deutschland, auch in der Schweiz. Wenn hierzulande über Femizide berichtet wird, werden immer noch Begriffe wie «Ehrenmord» oder «Beziehungstat» verwendet. Noch immer sind Frauen, die sich von ihren Partnern trennen, in einer besonderen Gefährdungslage. Alle zwei bis drei Tage wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Diese Gewalt sehen wir also weltweit, unabhängig von Herkunft, Religion oder Kultur. Obwohl es mittlerweile ein umfassendes internationales Regelwerk gibt, das sexualisierte Kriegsgewalt als Kriegsverbrechen anerkennt und die UN- Mitgliedsstaaten dazu auffordert, diese Verbrechen zu verfolgen, mangelt es noch immer an politischem Willen und praktischer Umsetzung und es fehlen in fast allen Staaten personelle und finanzielle Ressourcen, um sexualisierte Kriegsgewalt zu verfolgen. Hinzu kommen Verfahren der Dokumentation und Strafverfolgung, die retraumatisierend wirken können. Und noch immer gibt es viel zu wenig stress- und traumasensible medizinische, psychosoziale und juristische Angebote, um den Bedürfnissen der Überlebenden gerecht zu werden. Und auch in Deutschland und der Schweiz gibt es immer noch sehr viel zu tun, weil diese Gesetze unzureichend umgesetzt werden. Wir haben also keinen Grund zur Überheblichkeit. Im Grunde könnten wir sogar fragen, ob Frauen wirklich in einem Zustand des Friedens leben, wenn jede zweite bis dritte Frau im Laufe ihres Lebens sexualisierter Gewalt ausgesetzt ist, wenn jeden dritten Tag eine Frau ermordet wird, weil sie eine Frau ist.

Was kann man gegen sexualisierte Gewalt tun?
Ich habe vor mittlerweile 31 Jahren den Verein Medica Mondiale gegründet, mit heute etwa 80 Mitarbeiterinnen in Köln und Berlin und über 200 Mitarbeitenden weltweit, seit 2008 gibt es ausserdem die Medica Mondiale Foundation Switzerland. Gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen vor Ort unterstützen wir traumatisierte Frauen auf verschiedenen Ebenen. Fachlich, indem wir Therapiezentren aufbauen, wie zum Beispiel in Bosnien, im Kosovo, in Afghanistan und in Liberia, oder indem wir schon vorhandene Partnerorganisationen unterstützen. Wir vermitteln den von uns entwickelten STA, einen stress- und traumasensiblen Ansatz. Dabei geht es vor allem darum, für traumatisierte Personen Stabilität herzustellen und Retraumatisierungen zu vermeiden. Vier Grundpfeiler sind entscheidend: Sicherheit, Selbstermächtigung, Solidarität mit Betroffenen und schliesslich auch die Selbstfürsorge für jene, die helfen. In Liberia haben wir zum Beispiel ein Agreement mit der liberianischen Polizei, die in diesem Ansatz fortgebildet wird. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben wir Online-Trainings für ukrainische Frauenrechtsaktivistinnen gegeben.

Die Massnahmen, die Sie beschreiben, beziehen sich auf Frauen, die bereits sexualisierte Gewalt erlebt haben. Was aber kann man tun, damit es erst gar nicht dazu kommt? Wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, müsste sich die Gesellschaft dafür grundlegend ändern…
Ja. Geringer geht es nicht. Denn nur wenn die frauenfeindlichen patriarchalen Strukturen als Ursachen der Gewalt erkannt werden, können wirksame Gegenmassnahmen entwickelt werden, die dem Bedarf der Überlebenden entsprechen und weitere Gewalt verhindern. Zu all dem, was wir an gynäkologischer und psychosozialer Unterstützung anbieten, gehört daher immer auch politische und gesellschaftliche Frauenrechtsarbeit. Überall, wo wir arbeiten, klären wir auch gesellschaftlich auf. Wir müssen strukturell etwas verändern, wir müssen das Mindset der Menschen verändern, in Kriegs- und Krisengebieten weltweit, genauso wie in Europa, Deutschland und der Schweiz. Die beste Gesetzgebung reicht nicht aus, wenn es am politischen Willen mangelt, sie auch umzusetzen. Dazu gehören auch sexistische Stereotype und Klischees und sogenannte «Vergewaltigungsmythen», wie «der Rock war zu kurz», oder «warum ist sie auch mitgegangen». Vergewaltigungsmythen dienen dazu, sexualisierte Gewalt zu leugnen oder zu verharmlosen, die meist männlichen Täter zu entschuldigen oder zu rechtfertigen und sollen eine Täter-Opfer-Umkehr bewirken. Letztlich begünstigen und bagatellisieren sie die Gewaltverbrechen und schützen das patriarchale System. Dieses Verhalten ist nicht nur in der Bevölkerung und den Medien weit verbreitet, sondern auch unter Fachkräften in Beratung, Justiz und Polizei. Es gilt also, immer wieder gegen diese Stereotypen anzugehen, immer wieder die Machtverhältnisse aufzuzeigen, ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Training und Qualifizierung von juristischem Personal sind eine Voraussetzung dafür, dass wir eine veränderte Rechtsprechung bekommen. Grundsätzlich muss die Unterstützung der Überlebenden und die Bekämpfung sexualisierter Gewalt aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein. Justiz und Politik, Institutionen, Zivilgesellschaft und die breite Öffentlichkeit – sie alle müssen hier Verantwortung übernehmen und zu Dokumentation und Wahrheitsfindung, zu Erinnerungskultur und Wiedergutmachung beitragen.

Was halten Sie von der Darstellung sexualisierter Gewalt im Film oder auf der Bühne? Ist das in Ordnung oder sogar nötig, weil man damit auf die Dringlichkeit des Themas aufmerksam machen kann? Oder finden Sie, es sollte endlich Schluss damit sein, Frauen als Opfer zu zeigen?
Es ist wichtig, Frauen nicht auf eine Rolle als Opfer zu reduzieren, denn sie sind nicht schwach, sondern unendlich stark. Frauen sind es, die auf der Flucht auch noch die Alten und die Kinder durchbringen, obwohl sie so viel Gewalt erlebt haben. Sie sind Akteurinnen, sie sind nicht nur passiv, auch das muss dargestellt werden. Ausserdem ist es wichtig, durch die Art und Weise der Darstellungen keine Retraumatisierungen zu bewirken. Wenn wir davon ausgehen, dass in Deutschland und der Schweiz jede zweite bis dritte Frau Gewalt erlebt hat, dann gibt es diese Frauen auch im Publikum und unter den Schauspielerinnen oder Sängerinnen. Da muss man sensibel und sorgfältig vorgehen. Nach dem 7. Oktober sind ohne Zustimmung nicht verpixelte Fotos von jungen vergewaltigten Frauen um die Welt gegangen. Ein solcher Umgang der Medien mit Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, ist absolut nicht hinzunehmen. Wir müssen als Gesellschaft viel mehr über das Thema sprechen, statt dies von den überlebenden Frauen zu verlangen. Überlebende brauchen Schutz und Sicherheit sowie stress- und traumasensible medizinische und psychosoziale Unterstützung und müssen selbst entscheiden dürfen, wann sie bereit sind, über ihre belastenden Erfahrungen zu sprechen. Aber gesellschaftlich sind wir dafür verantwortlich, in einer angemessenen Weise über sexualisierte Gewalt zu berichten und diese Gewalt auf der Bühne darzustellen.  Sexualisierte Gewalt ist, wie gesagt, nicht nur in fernen Ländern ein Thema, sondern auch in unserer Gesellschaft und auch unter Kulturschaffenden. Das zeigt sich auch an #MeToo und ganz aktuell an einem erst kürzlich anlässlich der Filmfestspiele in Cannes erschienenen Aufruf der Organisation Fondation des femmes und #Metoomédia sowie der Schauspielerin Anna Mouglalis. Darin fordern mehr als 100 Unterzeichner:innen einen besseren Opferschutz bei Missbrauch und klarere Gesetze. Wir können das Problem nicht durch «othering» von uns schieben und sexualisierte Gewalt als Problem anderer Länder anprangern. Der Kampf gegen sexualisierte Gewalt beginnt hier, bei uns.

Das Gespräch führte Beate Breidenbach.

Monika Hauser ist Gründerin der Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale, mit der sie bis heute gegen sexualisierte Kriegsgewalt kämpft. 2008 bekam sie für ihre Arbeit mit traumatisierten Frauen in Krisenregionen den Right Livelihood Award, auch als alternativer Nobelpreis bezeichnet. Seit 2008 gibt es die Medica Mondiale Foundation Switzerland, die Medica Mondiale e.V. durch Fundraising unterstützt und sensibilisierende Trainings für Fachpersonal und Interessierte durchführt.

Dieser Artikel ist erschienen im MAG 113, Juni 2024.
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Volker Hagedorn trifft...


Maria Agresta

Die Sopranistin Maria Agresta stammt aus dem kleinen Städtchen Vallo della Lucania in Süditalien. Sie ist vor allem für ihre Rollenporträts in den Opern Verdis und Puccinis bekannt und tritt an den grossen Opernbühnen der Welt auf. 2014 erhielt sie den renommierten Premio Franco Abbiati. Am Opernhaus Zürich war sie bereits als Desdemona und als Norma zu erleben. In Verdis «Vespri siciliani» singt sie die Elena.

Kahle weisse Wände, eine Decke mit Dämmmaterial, Neonröhren, Heizungsrohr. Eine Frau im einfachen schwarzen Kleid, fast ungeschminkt, die schwarzen Haare offen tragend. Nein, das ist keine Opernszene auf meinem Bildschirm und auch kein Bericht von einer Entführung. Maria Agresta ist bestens gelaunt und nur wenige Meter von der Probebühne der Oper Zürich entfernt, wo es nun mal nicht so komfortabel aussieht wie im Zuschauerbereich. Sie hat sich den stillen Raum für unser Zoomgespräch ausgesucht, und im kargen Ambiente entfaltet sich erst recht, über hunderte von Kilometern hinweg, die süditalienische Energie dieser Sängerin, die noch ganz erfüllt ist von der Partie der Elena in Verdis I vespri siciliani und es mir gar nicht übel nimmt, dass ich über diese Gestalt wenig weiss und das Libretto dieser Oper ziemlich kompliziert finde. «Es ist wirklich sehr kompliziert», meint sie, «voll mit historischen Situationen, aus der Zeit, als die Sizilianer von den Franzosen unterdrückt wurden. Und es ist auch technisch und vokal schwierig. Elena singt sehr tiefe und sehr hohe Noten. Beweglichkeit, Koloraturen, Legato», sie zählt all die Herausforderungen an den Fingern auf, ihre Hände und Arme, auch ihr Gesicht sind immer in Bewegung, «alles ist in dieser Rolle, und die Emotionen! Die machen es noch schwieriger. Elena ist etwas zwischen Desdemona in Otello und der Elisabetta in Don Carlo, she’s a very strong woman, a real eroina, italian eroina.» Nachdem Maria sich lachend für ihr «terrible English» entschuldigt hat, das gar nicht schrecklich, sondern einfach sehr italienisch ist, fährt sie einfach in ihrer Muttersprache fort. «Elena ist eine Hauptfigur der Revolution. Sie empfindet die ganze Zeit Ungerechtigkeit, was natürlich auf den Mord an ihrem Bruder, aber allgemein auch auf die Gewalt an den Frauen zurückzuführen ist, auf den Überfall auf die Freiheit ihres Volkes.» Und sie sei die intelligenteste aller Frauen bei Verdi.

Die Geschichte um eine liebende Frau im Spannungsfeld zwischen Besatzern und Aufbegehrenden geht auf das 13. Jahrhundert zurück, war aber zur Uraufführung 1855 so aktuell wie heute. Die Sopranistin ist begeistert von Calixto Bieitos Regiekonzept. «Er möchte in erster Linie die Gewalt, die Unterdrückung des Volkes durch die Aggressoren, sei es physische oder psychische Gewalt, herausarbeiten. Es gibt bei ihm diese Verbindung zur Moderne, die aber immer in der Vergangenheit verwurzelt ist. Er weitet diese Sicht auf alle Nationen aus, die unter Unterdrückung litten, und untersucht, wie diese Völker darauf reagiert haben: Der Raub der Sabinerinnen, der spanische Aufstand der Kamisarden. Calixto arbeitet mit starken Bildern, auf der Bühne gibt es halb zerstörte Gebäude, die Ausdruck von Qual und Schmerz sind, sie repräsentieren unser zerrüttetes Inneres als Resultat von erlittener Gewalt, mit der wir umgehen müssen, manchmal ohne uns dagegen auflehnen zu können.»

Wie fühlt es sich an, so eine Inszenierung jetzt zu proben, in dieser Welt voller Gewalt? «Die ganze Zeit», sagt Maria Agresta, nun wieder auf Englisch, «fühle ich, dass die Oper gerade jetzt wichtig ist. Mit so schöner Musik können wir zeigen, was es bedeutet, wenn Menschen unterdrückt und angegriffen werden. Das Leiden durch Gewalt löst bei allen dasselbe aus: In dieser Situation kann ich nicht bleiben! Mit der Musik können wir die Seele direkt berühren und Fragen aufwerfen, auch über das, was in der Vergangenheit war. Manchmal vergessen wir das. Ich kann auch nicht auf Russland, Israel oder Italien schauen, wenn ich nicht weiss, was früher geschehen ist.» Kann all das denn mit einer Oper wachgerufen werden? «Nachrichten in den Medien sind oft gefiltert und politisch. Die Musik verbindet uns direkt mit einer verzweifelten Situation. Hier kann ich etwas mit meinem eigenen Denken verstehen.» Es ist also möglich, die Wahrheit in der Oper zu finden? «Sì, assolutamente, sì, sì!»

Sie strahlt. «In der Oper ist mehr Wahrheit, als wir denken.» Und die Musik selbst, meint sie, habe eine besondere Macht. «Vor vielen Jahren sang ich im Libanon das Verdi-Requiem, auf einem Platz voller Militär und Polizei. Sie hatten grosse Gewehre.» Sie hebt eine unsichtbare Waffe hoch, gleichsam schussbereit. «Und als die Musik begann…» Sie lässt die Arme langsam sinken. «Es war unglaublich. Daran denke ich immer, wenn ich an die Macht der Musik denke. Sie verwandelt die Menschen.»

Mit dieser Macht kam Maria Agresta zuerst in Berührung, als sie vier Jahre alt war, in ihrem Heimatstädtchen Vallo della Lucania, zwei Reisestunden südlich von Napoli, zwölf Kilometer vom Mittelmeer entfernt. «Der Patron meiner Stadt ist San Pantaleone, der wird im Juli gefeiert. Zu dieser Feier kommen viele bande musicale in die Stadt» – Blasorchester aus Amateuren, wie es sie noch in den 1980ern in unzähligen italienischen Kleinstädten gab –, «und ich konnte da Teilen aus Nabucco, Traviata zuhören, das löste grosse Gefühle in mir aus. Ich war da mit meinem Vater, und ausser uns hörten nur alte Männer und Frauen zu. Ich war das einzige Kind, und ich war so glücklich!» Später, als Maria zwölf Jahre alt war, machte ihre Schulklasse einen Ausflug nach Napoli, auch das berühmte Teatro San Carlo wurde besucht, «und als ich in diesem magischen Gebäude war, fing ich an zu weinen. Das Gefühl war zu gross für mich. Meine Freundinnen machten sich lustig über mich, aber meine Lehrerin lächelte, sie sah, dass ich hingerissen war, rapita, von der Welt dieses Theaters. Ich wollte in dieser Welt bleiben. Nicht als Opernsängerin, das konnte ich mir gar nicht vorstellen, vielleicht in der Kostümwerkstatt – einfach nur dort bleiben!» Einige Monate später kam sie in den Kirchenchor ihres Städtchens. «Ich fühlte beim Singen Heiterkeit und Glück und innere Ruhe, das kann ich nicht erklären.» Dem Pianisten des Chores fiel ihre Stimme auf, «er schlug mir vor, Unterricht zu nehmen. Ich wollte das machen, aber nur für mich, weil ich sehr gläubig war und fand, dass man mit dem Singen stärker beten kann. Dann stellte mich der Pianist einem Lehrer vor, einem Tenor, der sagte: Du könntest Opernsängerin werden.»

Maria nahm Unterricht bei ihm, mit 17 Jahren sang sie im Konservatorium in Salerno vor und wurde aufgenommen. Nun wurde es anstrengend. «Ich ging ja in meiner Stadt zur Schule und musste jetzt um 5 Uhr morgens aufstehen, um Zeit zum Lernen zu haben. An der Schule erwarteten sie meine volle Leistung, für die war das Konservatorium nur ein Hobby. Nach der Schule nahm ich den Zug nach Salerno, von da kam ich spät zurück. Jeder Tag war so. Ich konnte auf keine Party gehen.» Das Konservatorium verliess Maria mit Bestnoten, aber ihre wahre Stimme, den Sopran, fand sie erst später. «Ich sang als Mezzosopran jahrelang Barock und Sakralmusik, bis ich zum ersten Mal Raina Kabaivanska traf, eine grosse, einzigartige Lehrerin. Sie half mir, meine Karriere, meine Stimme, meinen Körper zu ändern. Ich sagte für ein Jahr alles ab und übte die neue Technik, mit der Lehrerin, jeden Tag nur sie und ich. 2007 sang ich meine erste Mimì, mein Debüt als Sopranistin, und dann sang ich überall...»

Eher beiläufig zählt sie ein paar der Häuser auf, die sie seitdem, von der Scala bis zur MET, in atemberaubendem Tempo erobert hat – was sie allerdings nie so ausdrücken würde. Wichtiger sind ihr ihre Rollen, all die grossen Frauengestalten der italienischen Oper. «In diese Rollen hineinzukommen», meint sie, «ist schwer. Das geht nicht im Zimmer, nur auf der Bühne kann man sie gestalten. Aber wieder herauszukommen ist viel schwerer. Nach Madama Butterfly bin ich innen zerstört, ich muss ihr dann mindestens zwei Tage fernbleiben, der Schmerz bleibt lange. Dasselbe ist es mit Desdemona. Die Liebe ist so zerbrechlich! Wenn der Mann, den du liebst, fähig ist, dich zu töten… Ich fühle das am Tag danach in mir wie zerbrochenes Glas.» Erstaunlich, sage ich, dass diese Gestalten bei aller historischen Entfernung so nahe sein können. Maria Agresta lächelt und sagt: «Oper ist Leben, sie ist Realität, und sie spricht dauernd von Realität. Sehen Sie sich doch nur um, was in der Welt passiert.»

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen im MAG 113, Juni 2024.
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Ich sage es mal so

Stumme Antworten auf grundsätzliche Fragen – mit Quinn Kelsey, der in unserer Neuproduktion von Giuseppe Verdis «I vespri siciliani» den Monforte singt.

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I vespri siciliani

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I vespri siciliani

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