Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
Musik mit Bildern von Helmut Lachenmann (*1935)
Schweizerische Erstaufführung
Dauer 1 Std. 55 Min. Keine Pause. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Einführungsmatinee am 22 Sep 2019.
Partnerin Ballett Zürich
und mit der Unterstützung der Freunde des Balletts Zürich
Vergangene Termine
Oktober 2019
12
Okt19.00
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
von Helmut Lachenmann, Ballett von Christian Spuck, Schweizerische Erstaufführung, Premieren-Abo A
18
Okt19.00
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
von Helmut Lachenmann, Ballett von Christian Spuck, Premieren-Abo B
20
Okt20.00
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
von Helmut Lachenmann, Ballett von Christian Spuck, Ballett-Abo Gross
25
Okt20.00
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
von Helmut Lachenmann, Ballett von Christian Spuck, Freitag-Abo A
27
Okt14.00
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
von Helmut Lachenmann, Ballett von Christian Spuck, Sonntag-Abo B
31
Okt19.30
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
von Helmut Lachenmann, Ballett von Christian Spuck, Ballett-Abo Klein
November 2019
01
Nov19.30
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
von Helmut Lachenmann, Ballett von Christian Spuck
10
Nov14.00
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
von Helmut Lachenmann, Ballett von Christian Spuck, AMAG Volksvorstellung
Gut zu wissen
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
Kurzgefasst
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von Helmut Lachenmann gehört zu den bedeutendsten Musiktheaterwerken, die in den vergangenen fünfzig Jahren geschrieben wurden und ist ein leuchtendes Beispiel dafür, dass Gegenwartsmusik trotz avanciertester kompositorischer Ansprüche ihren Weg zum Publikum findet. Lachenmanns Komponierstil verschränkt Klang und Geräusch, Wisch- und Klopfbewegungen, Anblas- und Schab-Aktionen, folgt einer radikalen Struktur- und Materialbefragung – und dennoch fügt sich seine Partitur zu einem überwältigenden, alle Sinne betörenden Musiktheater. Das hat dem Werk Kultstatus eingebracht und seit der Uraufführung im Jahr 1997 viele begeistert aufgenommene Aufführungen. «Musik mit Bildern» hat der deutsche Komponist sein einziges Musiktheaterwerk im Untertitel genannt. Das Stück erzählt Hans Christian Andersens todtrauriges Märchen von einem Mädchen, das an einem eisigen Silvesterabend barfuss an einer Hauswand im Schnee erfriert, weil niemand ihm ein Bündel Streichhölzer abkauft. Aufbegehrend gegen die Kälte und die Mitleidlosigkeit der Welt zündet es die Streichhölzer an und imaginiert im «Ritsch» der aufflammenden Hölzchen für einen kurzen Moment die Wonnen des bürgerlichen Wohlstands und schliesslich die tote Grossmutter, die das Kind mit in den Himmel nimmt. Für Lachenmann ist Andersens Märchen hochpolitisch: Seine Musik offenbart geradezu physisch wahrnehmbare Zustandsbeschreibungen eines einsamen, von der ganzen Welt im Stich gelassenen Menschen und fasst zugleich die Eiseskälte einer modernen Gesellschaft in Töne, die solche Verlassenheit hervorbringt. In unserer Neuproduktion von Lachenmanns Mädchen, die zugleich die Schweizer Erstaufführung ist, widmet sich Ballettdirektor Christian Spuck diesem alle Rahmen und Wahrnehmungsmuster sprengenden Werk und bringt es zum ersten Mal überhaupt als Ballett auf die Bühne. Spuck erweitert damit sein choreografisches Schaffen um eine wagemutige, alle Kräfte des Hauses herausfordernde Facette – Tanz, Bilder, Gesang und Lachenmanns faszinierend gestisch theatrale Musik, die auch den Zuschauerraum des Opernhauses zum Klangraum macht, verbinden sich zu einem Kunstabenteuer der ganz besonderen Art.
Gespräch
Ein Mensch erfriert
Helmut Lachenmanns Musiktheater «Das Mädchen mit den Schwefelhölzern» handelt von Ausgrenzung und gesellschaftlicher Kälte. Christian Spuck bringt das Werk nun erstmals als Ballett auf die Bühne. Ein Gespräch mit dem Zürcher Ballettdirektor über die Herausforderung, auf zeitgenössische Musik zu tanzen und eine Geschichte zu erzählen, die alles andere als märchenhaft ist.
Christian, Helmut Lachenmanns Musiktheaterwerk Das Mädchen mit den Schwefelhölzern basiert auf einem Märchen von Hans Christian Andersen. Seit wann kennst du dieses Märchen, und was bedeutet es dir?
Ich habe es tatsächlich zum ersten Mal richtig bewusst wahrgenommen in Verbindung mit Helmut Lachenmanns Werk, für mich ist es an seine Komposition gebunden. Ich habe Das Mädchen mit den Schwefelhölzern vor 18 Jahren in einer Produktion an der Stuttgarter Oper gehört. Helmut war für mich kein Unbekannter. Wir lebten beide in Stuttgart, und ich hatte zuvor schon Musik von ihm gehört, auch weil der Dramaturg Jens Schroth, mit dem ich befreundet war, ein Schüler von ihm war. Ich erinnere mich gut, dass die Musik mich damals total begeistert hat, ich mir aber gleichzeitig auch verloren vorkam angesichts der vielen Fragen, die sich für mich auftaten. Es war ein prägendes Erlebnis. Und wie so oft speichert man solche Erlebnisse dann in einer Ecke seines Bewusstseins ab, und irgendwann tauchen sie wieder auf und werden konkret. In Direktionsgesprächen hier in Zürich kamen wir auf Das Mädchen mit den Schwefelhölzern zu sprechen, und ich habe zu erkennen gegeben, dass es mich interessieren würde, dieses Stück als Ballett zu machen. Von diesem Moment bis zur Geburt unseres Projektes ging es dann schnell.
Worin liegt für dich die Attraktivität dieses Stoffs?
Helmut Lachenmann nutzt Andersens traurige Geschichte von einem Mädchen, das in der Silvesternacht Streichhölzer verkaufen soll und erfriert, um von sozialer Kälte in einer Gesellschaft zu erzählen, die mitleidlos nur mit sich selbst beschäftigt ist. Mich fasziniert vor allem, wie er mit diesem Thema umgeht: Er bringt es in seiner Musik schmerzlich genau zur Darstellung, aber er wertet nicht. Er stellt das einfach hin und lässt uns seine Bilder in Klangform betrachten bzw. hören.
Lachenmann hat sein Werk im Untertitel als «Musik mit Bildern» bezeichnet. Was ist damit gemeint?
Es ist eben keine Oper. Es gibt keine Sängerinnen auf der Bühne, die Rollen verkörpern. Es gibt nur diese hochmoderne, anspruchsvolle, faszinierende Musik, die das Andersen-Märchen transportiert. Das Verhältnis von Geschichte und Musik hat allerdings überhaupt nichts gemeinsam mit einem Handlungsballett. Helmuts Musik illustriert das Andersen-Märchen nicht, sie liefert vielmehr akustische Bilder und Zustandsbeschreibungen. Die sind aber so plastisch, dass man sich sofort die Frage stellt: Was soll ich da noch für Bilder auf die Bühne bringen, wenn die Musik einem schon alles vor Ohren führt?
Kannst du ein Beispiel geben?
Es gibt am Anfang des Stücks eine «Frier-Arie», in der Helmut tatsächlich ganz konkret das Frieren komponiert. Man hört die Kälte und wie das Mädchen mit zitternden Unterlippen dagegen ankämpft. Man hört die Einsamkeit des Mädchens, das von allen links liegengelassen wird. In den ersten Proben habe ich probiert, genau das zu erzählen, und dann ganz schnell gemerkt, dass ein Mädchen, das nach vorn kommt und Gesten des Frierens macht und an dem Leute achtlos vorübergehen, überhaupt nicht funktioniert.
Warum?
Weil die Choreografie dann nur verdoppelt, was man hört. Das ist das Problem, mit dem bisher alle Regisseure zu kämpfen hatten, die sich an das Stück gewagt haben. Man muss dieser Musik und ihrer Bildhaftigkeit etwas anderes, Eigenes entgegensetzen. Da sehe ich in der abstrakten Sprache des Tanzes eine grosse Chance. Mit ihr lässt sich viel leichter eine kontrapunktische Spannung erzeugen zwischen Bühne und Szene auf der einen und Helmuts starker Musik auf der anderen Seite. Was man sieht, muss dazu führen, dass man anders zuhört. Helmut hat einmal gesagt, seine Musik führe im Idealfall dazu, dass man mit den Ohren sehe. Für mich als Choreograf gilt das Umgekehrte: Unsere Arbeit muss dazu führen, dass man mit den Augen hört. Mit den Ohren sehen und mit den Augen hören, darum geht es in dieser Form von Musiktheater. Und das ist auch jenseits des Mädchens ein immer wiederkehrendes Anliegen in meiner Arbeit mit dem Ballett Zürich.
Lachenmann hat, wie du bereits gesagt hast, keine Rollen komponiert. Wie ist das in deiner Choreografie? Gibt es da Figuren?
Das Mädchen wird bei uns von zwei Tänzerinnen verkörpert, parallel zu den beiden Sopranstimmen, die in Helmuts Partitur im Duett erscheinen. Gleich zu Beginn taucht in der Geschichte ein Junge auf, der dem Mädchen den letzten Pantoffel stiehlt. Ihn habe ich in grotesker Verzerrung vervielfacht. Es gibt die Gesellschaft der achtlos Vorübergehenden, auch sie sind erkennbare Figuren, ihre Winterkostüme verweisen auf die Zeit von Hans Christian Andersen. Dann taucht eine Reihe abstrakter Figuren auf, die zum Beispiel Kälte erzählen oder ganz bestimmte Emotionen vermitteln. Und auch Gudrun Ensslin wird auf der Bühne zu sehen sein.
Du sprichst von der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin. Lachenmann führt sie in sein Stück ein, indem er an exponierter Stelle aus einem Brief von ihr zitiert.
Es gibt eine Parallele zwischen dem Mädchen und der Terroristin Ensslin in Form des Zündelns. Das kleine Mädchen zündet seine Streichhölzer an aus purer Überlebensnot, weil es sonst erfriert. Für Gudrun Ensslin war das kapitalistische System der Bundesrepublik, in dem sich nach dem Zweiten Weltkrieg Täter und Mitläufer der Nazizeit behaglich eingerichtet hatten, so unerträglich geworden, dass sie ein Kaufhaus anzündete und später Menschen tötete. Das kleine Mädchen und die RAF-Terroristin sind sowohl im Akt ihres Aufbegehrens als auch in der Unwiderruflichkeit ihres Tuns miteinander verbunden.
Wenn bei dir Tänzerinnen und Tänzer konkrete Figuren verkörpern, gerät dann deine Choreografie nicht in einen Widerspruch zur Komposition, die keine Figuren kennt?
Würde ich nur abstrakt choreografieren, wäre mir der Abstand zu Andersens Märchen zu gross. Die Geschichte möchte ich schon erzählen, in grossen und abstrakten Bildern und in einem dialektischen Zusammenwirken von Musik und Choreografie, ohne platt zu illustrieren. Das ist die Herausforderung. In den bisherigen Inszenierungen haben sich die Regisseure immer wieder in allgemein abstrakte Bildwelten oder installative Konzepte geflüchtet, um einerseits der Musik nicht in die Quere zu kommen und andererseits bloss nichts Märchenhaftes zu erzählen. Ich suche nach einer Mischform. Den erzählerischen Anteilen, die vor allem durch die Kostüme, aber auch von Video-Projektionen getragen werden, stehen abstrakte Tanzszenen gegenüber, die ganz assoziativ mit Themen wie Kälte, Frieren, Einsamkeit und Verlassensein umgehen. Das Entscheidende dabei ist für mich, tief in die Musik einzutauchen, mich ihrer Komplexität zu stellen, und wirklich en détail auf sie zu choreografieren. Ich wollte es uns eben nicht leicht machen, indem wir unabhängig von dem Komponierten choreografisch über die Musik hinweggehen oder einfach Bilder entwickeln, die parallel zur Musik vor sich hinlaufen. Ich will für die einzelnen Geräusche und Klänge impulsgenaue choreografische Entsprechungen finden. Wenn es etwa einen Percussion-Schlag gibt, soll das in der Bewegung erkennbar sein. Die Choreografie muss durchtränkt sein von der Musik und umgekehrt. Das darf nicht nebeneinanderher laufen.
Und wie geht das? Die Tänzerinnen und Tänzer sind keine Experten im Umgang mit zeitgenössischer Musik. Es ist ja vielleicht kein Zufall, dass das Stück noch nie als Ballett auf die Bühne gekommen ist.
Im Ballettsaal, beim Entwickeln des choreografischen Materials, hören wir die Musik immer wieder. Die Tänzerinnen und Tänzer haben ein unglaubliches Gedächtnis. Sie erinnern eine Bewegung immer in Verbindung mit der Musik, zu der sie tanzen, und das funktioniert letztlich sogar bei einer so komplexen Musik wie der von Helmut Lachenmann. Sie haben kein Problem, ihre Bewegungsabläufe wieder exakt auf den gleichen Klang zu legen, auch nicht beim Mädchen mit den Schwefelhölzern. Als sie zum ersten Mal die riesige Mädchen-Partitur gesehen haben, waren sie völlig überrascht, dass sich solche Geräuschklänge überhaupt notieren lassen. Inzwischen aber hat ein Verinnerlichungsprozess mit dieser Musik stattgefunden, es ist normal geworden, mit ihr umzugehen. Allein die Tatsache, dass wir uns alle mit dieser anspruchsvollen Musik intensiv auseinandergesetzt haben, hat unsere Wahrnehmung verändert und uns künstlerisch vorangebracht. Das ist ein grosses Geschenk.
Ballettcompagnien pflegen ihre Bewegungsabläufe durchzuzählen, Lachenmanns Metren aber sind hochkomplex. Wie geht das zusammen?
Natürlich lässt sich Helmuts Musik nicht in dem Sinne «zählen», wie die Tänzer das aus anderen Balletten gewohnt sind. Deshalb haben wir als zusätzliches optisches Hilfsmittel Videoscreens installiert, auf denen die Taktzahlen des Stückes angezeigt werden. Die gesamte Partitur ist in kleinste Einheiten gerastert. So können sich die Tänzerinnen und Tänzer jederzeit, auch während der Vorstellung, orientieren. Allerdings versuche ich, noch einen Schritt weiterzugehen und nicht nur auf musikalische Akzente zu reagieren, sondern auch choreografische Akzente zu setzen, die nicht in der Musik vorhanden sind, sodass sich das choreografisch szenische und das musikalische Geschehen wirklich miteinander verschränken. Noch stärker als in all unseren vorhergehenden Produktionen sind die Tänzerinnen und Tänzer hier als mitkreierende Künstler gefragt.
Welche Überlegungen haben zum Bühnenbild von Rufus Didwiszus geführt?
Schon bei einem ersten Abklopfen des Andersen-Märchens findet man ja sehr viel. Da gibt es als Anknüpfungspunkte eine Strasse, zugige Hausecken, leuchtende Fenster, Schnee, Kälte und vieles mehr. Aber auch das Umfeld von Gudrun Ensslin und der RAF liefert weite Assoziationsräume. Wichtig für uns wurde ein Foto, das das von Gudrun Ensslin in Brand gesetzte und völlig zerstörte Kaufhaus in Frankfurt/Main als Brandruine zeigt. Den anfangs sehr vollgepackten Bühnenbildentwurf haben wir immer weiter reduziert, bis nur dieses Foto übriggeblieben ist. Im Bühnenbild von Rufus ist es nun zum zentralen Element geworden, eine rätselhafte Reliefwand. Man erkennt das Innere eines verbrannten Hauses und weiss: Hier ist Zerstörerisches geschehen. Trotzdem haftet dem Bild eine gewisse Altarhaftigkeit an, eine Kraft, die wie in Andersens Märchen in eine andere Welt weist. Darüber hinaus bleibt der Raum weitgehend leer, denn es ist mir wichtig, das Stück mit den Tänzern und der Choreografie zu erzählen. Im Findungsprozess gilt für die Choreografie wie für das Bühnenbild: «Kill your darlings!» Sobald uns etwas zu erzählerisch vorkam oder zu dekorativ, kam es weg. Gerade Rufus Didwiszus ist in diesem Punkt sehr streng. Auch er hat sich unglaublich in diese Musik vertieft und sagt immer: «Was bereits in ihr erzählt wird, dürfen wir nicht noch einmal erzählen!» Deshalb ist das Bühnenbild eine Reduktion auf das Wesentliche und vielleicht sogar eine Parallele dazu, wie Helmut Lachenmann seine Klänge entkernt und neu denkt.
Lachenmanns Werk ist ja nicht nur eine Riesenaufgabe für das Ballett, sondern für alle Abteilungen am Opernhaus Zürich. Worin liegen die Besonderheiten?
Ich habe den Eindruck, dass Das Mädchen mit den Schwefelhölzern mit zum Anspruchsvollsten gehört, was das Orchester jemals auf seinen Pulten liegen hatte. Die Musiker müssen für sie völlig neue Spieltechniken erlernen, die ihnen im Alltag eines Opernorchesters nie begegnen. Das ist nicht nur eine Aufgabe für jeden einzelnen, sondern auch für die Planung. Ehe die erste Orchesterprobe stattfindet, proben die Stimmgruppen in vielen Sitzungen allein. Matthias Hermann, unser Dirigent, ist ein sehr erfahrener Lachenmann-Kenner, der das nötige Wissen für die Aufführung des Werkes vermittelt. Dann kommt hinzu, dass wir für diese Produktion einen externen Chor engagieren mussten, nämlich die Basler Madrigalisten, die ausgewiesene Experten in Sachen zeitgenössischer Musik sind. Da in diesem Werk Musiker und Choristen auch im Zuschauerraum platziert sind, wird das ganze Haus zum Klangraum. Nur ganz selten wird ein Opernhaus in dieser Weise bespielt. Man kann hier Musik, Tanz, Theater auf völlig neue Weise erfahren. Und darauf, dass der Komponist selbst gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern als Sprecher auf der Bühne stehen wird, freue ich mich ganz besonders.
Welcherart ist deine Beziehung zu Helmut Lachenmann?
Wir sind jetzt seit fast drei Jahren in regelmässigem Kontakt, und ich habe ihn in dieser Zeit als grossartigen Künstler kennengelernt, der mich vor allem durch seine entwaffnende Menschlichkeit fasziniert. Von Anfang an war er offen für die Idee, das Mädchen aus einer choreografischen Perspektive zu erarbeiten. Mit unendlicher Geduld hat er mir bei einem Treffen in Stuttgart seine Partitur erklärt - das erlebt man wahrscheinlich nur einmal im Leben.
Sagt die Tatsache, dass du Das Mädchen mit den Schwefelhölzern machst, auch etwas über den künstlerischen Weg aus, den du mit dem Ballett in den nächsten Jahren gehen willst?
Bei meiner Vertragsverlängerung vor einem Jahr habe ich mir für die Zeit bis 2025 vorgenommen noch mutiger zu sein, und das Lachenmann-Projekt ist ein Schritt in diese Richtung. Mein grosses Vorbild in dieser Hinsicht ist immer noch das von William Forsythe geprägte Ballett Frankfurt in den neunziger Jahren. Damals brachte jede Premiere in Frankfurt etwas auf die Bühne, mit dem niemand gerechnet hatte. Als ich vor sieben Jahren hier in Zürich angefangen habe, hätten wir ein Stück wie Lachenmanns Mädchen niemals stemmen können. Die Compagnie ist in den vergangenen Jahren künstlerisch enorm gewachsen. Dieses Kapital müssen wir nutzen.
Glaubst du, dass das Ballettpublikum die Expedition ins zeitgenössische Musiktheater zu schätzen weiss?
Ich bin überzeugt davon, dass das Publikum mit dem Mädchen einen aufwühlenden Theaterabend erlebt, wenn es bereit ist, tradierte Hör- und Sehgewohnheiten für einen Abend über Bord zu werfen. Wer mit der Erwartung kommt, hier finde das Weihnachtsmärchen statt, wird sich wundern, dass er ein Weihnachtsmärchen der ganz anderen Art erlebt. Aber ich bin mir natürlich im Klaren darüber, dass dieser Abend Fragen aufwirft und nicht jedem gefallen wird. Ich freue mich, wenn unser Publikum nach einer Vorstellung von Romeo und Julia zu Tränen gerührt ist, aber ich finde es genauso wertvoll, wenn es mit vielen offenen Fragen aus einem Ballettabend geht.
Das Gespräch führten Michael Küster und Claus Spahn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 72, Oktober 2019.
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Pressestimmen
«Helmut Lachenmann hat von einem Wahrnehmungsabenteuer gesprochen – und ein solches ist «Das Mädchen mit den Schwefelhölzern» in Zürich zweifellos.»
Aargauer Zeitung, 14.10.2019«Ein Stück, das man gehört haben muss. Oder, besser gesagt: in dem man das Hören neu erlernen kann, weil man sich erst verliert, dann verliebt in diese sich zart verzweigende Riesenpartitur, wie ein Blinder, der plötzlich, mit einem Schlag, wieder Licht und Farbe sieht.»
Neue Zürcher Zeitung, 14.10.2019«Die Choreografie trifft die Töne so feinfühlig und exakt, dass man die Bewegungen auch als Klänge wahrnehmen kann.»
Tages Anzeiger, 14.10.2019
Essay
Die neue Ballettspielzeit ist schon sechs Wochen alt, aber noch immer leuchten die Augen von Michelle Willems, wenn sie von ihren Sommerferien erzählt. Fast klingt es, als hätte sie da einen Länderrekord aufstellen wollen, war sie doch in der relativ kurzen Zeit auf gleich drei Kontinenten unterwegs. Von der Schweiz aus ging es zunächst nach Armenien und in die USA, dann von Moskau aus auf die Malediven und anschliessend über Russland zurück nach Zürich. Das Reisen liegt ihr im Blut, sie ist seit ihrer frühesten Kindheit eine Globetrotterin gewesen. Eine Weltbürgerin mit französischem Pass, deren Familie mütterlicherseits schon seit fünf Generationen quer durch Europa und Afrika gezogen ist. «Oft fragen mich die Leute, ob ich ein Diplomatenkind sei», lacht Michelle, die selbst in Belgien geboren ist, ihre Kindheit dann aber - bedingt durch die Arbeit ihrer Eltern - erst in Kasachstan und anschliessend in Thailand verbracht hat. Die längste Zeit ihres Lebens hat Michelle in Moskau gelebt, und so ist die Affinität zu Russland bis heute besonders stark. «Mir hat es an allen Orten gefallen», erzählt Michelle, «aber Russland ist schon etwas Besonderes. Auf den ersten Blick wirken Russen vielleicht etwas kalt und streng, aber sobald du sie ein bisschen kennst, erobern sie dich mit ihrer Herzlichkeit im Sturm. Wenn sie dich einladen, biegen sich die Tische», erklärt sie. Das Leben in völlig unterschiedlichen Kulturen hat sie neugierig gemacht auf alles Unbekannte, und beinahe mühelos kann sie sich an neue Lebensumstände anpassen: «Wahrscheinlich habe ich mir aus jedem Land das Beste mitgenommen, um so zu werden, wie ich heute bin.»
Wie sie heute ist? Der Weg der charismatischen Tänzerin verlief nicht schnurstracks geradeaus, sondern war immer wieder von Überraschungen und unverhofften Wendungen geprägt. «Angefangen hat alles in Kasachstan», erinnert sich Michelle. «Dort gastierten damals viele russische Ballettcompagnien, auch das Bolschoitheater war immer wieder mit grossen Ballettaufführungen zu Gast. Meine Mutter hat mich als Vierjährige mit in die Vorstellungen genommen, und damals fing diese Begeisterung an. Schon bald erklärte ich, dass ich Ballerina werden wolle. Meine Mutter nahm das am Anfang nicht wirklich ernst, aber dann unterstützte sie mich so, wie sie alle meine Geschwister unterstützt hat. Sie hat mir immer geraten, alles auszuprobieren und nie irgendeinen Druck auf mich ausgeübt. Sollte ich merken, dass etwas nichts für mich sein sollte, würden wir schon etwas Anderes finden. Ein herrlich unaufgeregter Pragmatismus, für den ich sie wirklich bewundere.» Nach den ersten Ballettstunden in Moskau setzte Michelle ihre Tanzausbildung in Bangkok fort, ehe sie dann mit Zwölf an der Akademie des Bolschoitheaters aufgenommen wurde. Ein Moment, in dem Michelle plötzlich klar wurde, dass es sich hier nicht mehr um eine Mädchenlaune, sondern um eine Weichenstellung für das weitere Leben handelte: «Bis zu diesem Zeitpunkt war Tanz für mich ein pures Vergnügen gewesen. An der Akademie sah ich dann plötzlich all diese Mädchen, die mit absoluter Hingabe, Ernst und gelegentlich auch Verbissenheit trainierten, das hat mir für einen Moment Angst gemacht. Aber auch hier half wieder der Rat meiner Mutter: «Das ist eine einmalige Chance in deinem Leben. Wenn du es nicht versuchst, wirst du es vielleicht einmal bedauern. Probier es, und wenn es dir nicht gefällt, hörst du auf.» Michelle ist geblieben und erinnert sich, dass bei den Aufnahmeprüfungen vor allem auf die körperlichen Voraussetzungen der Tänzerinnen und Tänzer allergrösster Wert gelegt wurde: «Das war weit wichtiger als die tänzerische Qualifikation!». Wie hat sie die Atmosphäre an der renommierten Schule erlebt? Stimmt das Klischee von Drill und Konkurrenzdruck? Michelle wird nachdenklich: «Rückblickend war diese strenge russische Schule eine gute Vorbereitung auf alles, was danach kam und noch kommen sollte. Natürlich gab es mitunter auch Schmerz und Tränen, aber man darf es sich nicht so wie in den einschlägigen Ballettfilmen vorstellen: Ich hatte nie Glasscherben in meinem Tanzschuh. Wir hatten eine tolle Zeit und haben auch in dieser strengen Umgebung genügend Streiche und Dummheiten gemacht. In Moskau habe ich zum Glück aber auch Selbstdisziplin gelernt, und dafür bin ich wirklich dankbar. Heute mache ich Dinge nicht, weil sie jemand von mir verlangt, sondern weil ich sie selber will.»
Selbstdisziplin, aber vor allem auch Selbstvertrauen wird sie brauchen, denn das Examen, nach dem endlich die ersehnte Tänzerinnenlaufbahn beginnen soll, endet erst einmal mit einer Enttäuschung. Diese Abschlussprüfungen finden vor den versammelten russischen Ballettdirektoren statt. Viele sind begeistert von der zierlichen blonden, perfekt Russisch sprechenden jungen Tänzerin. Als sie jedoch realisieren, dass sie keinen russischen Pass hat und man sich bei einem Engagement sehr wahrscheinlich auf bürokratische Hürden einstellen muss, machen die Interessenten einen Rückzieher. Die frisch gebackene Absolventin steht ohne Job da, auch bei ausländischen Compagnien sind die Auditions für die kommende Saison zu diesem Zeitpunkt längst gelaufen. Ein klassischer Fehlstart also? Wieder ist es Michelles Mutter, die in der angespannten Situation die Nerven behält. Sie organisiert einen Kontakt zum Atelier Rudra-Béjart in Lausanne, und Michelle geht einmal mehr auf Reisen. Der Ballett-Klimawechsel stellt sich als Glücksfall heraus: «Lausanne war der perfekte Ort, um meiner sehr klassisch geprägten Ausbildung einen Schuss Moderne hinzuzufügen und meinen Horizont in diese Richtung zu erweitern.» Auch der Schweiz bleibt Michelle Willems treu. Nach zwei Jahren im Junior Ballett engagiert sie Christian Spuck 2016 ins Ballett Zürich und konfrontiert sie von Beginn an mit ständig wachsenden Aufgaben. Besonders gern erinnert sie sich an Kitty in Spucks Anna Karenina: «Wie Christian ihren Weg von einem recht oberflächlichen und verwöhnten Mädchen in eine tief empfindende junge Frau umgesetzt hat, war eine unvergessliche Erfahrung. Als Tänzerin konnte ich da viele verschiedene Facetten zeigen. Christian hat seine unverwechselbare Sprache. Besonders gefällt mir, dass er in seinen Handlungsballetten nicht mit dieser Art von Fake-Pantomime arbeitet, jenen leeren Gesten, die einen in Ballettaufführungen ganz schön ermüden können. Bei ihm ist alles auf ganz natürliche Weise mit dem Tanz verbunden, es fühlt sich ähnlich an wie ein Film.»
Beim Thema Handlungsballette gerät Michelle ins Schwärmen. «Ich liebe es, auf der Bühne Geschichten zu erzählen», sagt sie begeistert. «Da kann ich mich selbst vergessen, mich in jemand anderen verwandeln und das Publikum in eine andere Welt entführen. Was kann man sich Schöneres wünschen?» In der Spielzeit 2016/17 stand sie nicht nur als Marie in Christian Spucks Nussknacker und Mausekönig auf der Bühne, sondern begeisterte das Publikum auch als tief empfindendes Gretchen in Edward Clugs FaustBallett. Aber auch auf die abstrakten Ballette möchte sie nicht verzichten, schliesslich kann man da «alles aus sich herausholen, seine Grenzen testen und herausfinden, wie weit man gehen kann». Die Begegnungen mit Choreografenpersönlichkeiten wie Jiři Kylián und vor allem mit William Forsythe seien «Lektionen fürs Leben» gewesen, besonders Forsythes Choreografie Quintett habe ihr Leben verändert. «Es ist eines meiner absoluten Lieblingsstücke. Forsythe wird 70 in diesem Jahr. Das ist kaum zu fassen, weil man sich im Strom seiner jugendlichen Energie wirklich alt fühlt. Er ist eine unendliche Inspiration. Daher freue ich mich riesig auf unseren neuen Forsythe-Abend im Januar».
Zunächst aber wartet eine andere grosse Herausforderung auf Michelle Willems. In Christian Spucks Inszenierung von Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern ist sie eine von insgesamt sechs Mädchen-Figuren, die der Choreograf für Michelle und ihre Tänzerkolleginnen kreiert. «Christian versucht da gerade, etwas völlig Neues auszuprobieren und auch für ihn ungewöhnliche Wege zu gehen. Wege, die wirklich aus Helmut Lachenmanns Musik heraus und wieder in sie hineinführen. Diese Musik ist so völlig anders als alles, was wir bisher gemacht haben. Wir reagieren zwar auch auf bestimmte Klänge und Vokaleinsätze, hauptsächlich arbeiten wir aber mit einem ausgeklügelten Videoscreening, das uns anhand einer numerischen Anzeige der Taktzahlen durch die komplizierte Partitur führt. Das verlangt allerhöchste Konzentration. Im Moment geht es vor allem noch um die Erarbeitung des Schrittmaterials. Ich bin sehr gespannt, wie das dann mit der Bühne, den Kostümen und dem Orchester zusammenkommt.»
Was bekommt ein Choreograf von Michelle Willems? Sie muss lachen: «Natürlich versuche immer, mein Bestes zu geben und die jeweilige Choreografie zu verinnerlichen und sie mir zu eigen zu machen. Mit viel Respekt natürlich und ohne sie zu verändern, aber ihr doch einen ganz feinen und unverwechselbaren Michelle-Touch zu verleihen». Für eine Kosmopolitin wie sie endet die Realität natürlich nicht an der Tür des Ballettsaals, dafür ist sie zu neugierig. Reisen, Filme, Musik, ihre Freunde, tolles Essen - das alles liefert ihr die nötige Inspiration. «Wenn mir Leute sagen: ‹I live ballet›, werde ich stutzig», sagt sie. «Für mich würde das nicht funktionieren. Wenn ich kein Leben abseits des Tanzes hätte, könnte ich auf der Bühne nur wenig erzählen.»
Text von Michael Küster.
Foto von Jos Schmid.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 72, Oktober 2019.
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Essay
Hellwach mit allen Sinnen
Der deutsche Komponist Helmut Lachenmann hat mit seinem Musiktheater «Das Mädchen mit den Schwefelhölzern» ein überwältigendes Meisterwerk der zeitgenössischen Musik geschrieben. Am Opernhaus Zürich ist diese alle Sinne herausfordernde Erfolgskomposition der Moderne nun als Schweizerische Erstaufführung zu erleben - als Ballett in der Choreografie von Christian Spuck.
Was für eine Kälte! Erstarrt muss diese Welt sein, steifgefroren, knochenhart. Man kann es am Knacken und Klirren hören, das die Instrumente hervorbringen, ihrem leisen Fauchen, das wie eisig schneidende Winde tönt, den brüchigen Geräuschschollen, die den Boden einer knirschenden Klanglandschaft bilden. Zu flüssig wechselnden Tonhöhen scheint diese Musik gar nicht mehr fähig zu sein. Und was sie mit dem Menschen macht, wenn er ihr ausgesetzt ist, hören wir auch: Das Schlottern und Bibbern zweier Singstimmen, ihr stockendes Atmen, ihr Japsen. Es ist eine Musik der blaugefrorenen Lippen, die hier erklingt.
Märchenvertonungen stellt man sich eigentlich anders vor, irgendwie idyllischer und heimeliger, vor allem wenn in ihnen der Weihnachts-Winterfrost ausgebrochen ist und Schneeflocken fallen. Das liegt daran, dass wir Wintermärchen ganz selbstverständlich immer als diejenigen wahrnehmen, die in der guten Stube in behaglicher Wärme sitzen. Kalt ist es nur draussen. Der deutsche Komponist Helmut Lachenmann aber ist mit der Hauptfigur von Hans Christian Andersens Märchen Das Mädchen mit den Schwefelhölzern hinausgegangen in die beissende Kälte und hat in seiner Musik geradezu körperlich vernehmbar gemacht, wie es ist, wenn «ein kleines, armes Mädchen mit blossem Kopfe und nackten Füssen», wie es bei Andersen heisst, in einer Winternacht auf der Strasse unterwegs ist. Eine bibbernde «Frier-Arie» hat er beispielsweise komponiert und eine «Schnalz-Arie», die wie ein auskomponierter Verzweiflungs-Tic klingt - Gaumenschnalzen und Wangenklopfen als verzweifelt kindlich spielerische Reaktion auf die Unerträglichkeit des Daseins.
Unerträglich ist die ganze Geschichte. Hans Christian Andersens Märchen gehört zu den traurigsten, die je geschrieben wurden. Ein Mädchen wird in einer Silvesternacht auf die Strasse geschickt, um Schwefelhölzchen zu verkaufen. Die Familie ist in Not, braucht das Geld. Aber keiner kauft dem Kind etwas ab, keiner beachtet es. Es kauert sich in einen Winkel zwischen zwei Häusern und zündet ein Schwefelhölzchen an, um sich an der Flamme die verfrorenen Hände zu wärmen. Es zündet weitere Hölzchen an, weil ihm mit jeder Flamme Traumbilder von Wärme, Geborgenheit und Wohlstand erscheinen. In einem der Bilder sieht es die tote Grossmutter, und um das Bild der Grossmutter nicht zu verlieren, zündet es schliesslich alle Schwefelhölzer auf einmal an. Hell leuchtet die Flamme, das Mädchen fliegt mit der Grossmutter in den Himmel. Aber das Licht des nächsten Morgens fällt auf eine Kinderleiche - das Mädchen mit den Schwefelhölzern ist erfroren.
Die Gesellschaftskritik, die Andersens Märchen innewohnt, liegt auf der Hand: Die Menschen auf der Strasse gehen achtlos an einem erfrierenden Menschen vorüber. Das Mädchen stirbt unter den Fenstern gut geheizter Wohnzimmer, in denen fette Weihnachtsgänse auf den Tischen stehen. Helmut Lachenmanns Musik macht diese gesellschaftliche Kälte zum Thema, die Fröste von Gleichgültigkeit, Selbstbezogenheit und Mitleidlosigkeit. Und das Aufbegehren dagegen: Mit einem «Ritsch» zündet das Mädchen die Streichhölzer an. Dieses «Ritsch» ist seine Reaktion auf die Ausweglosigkeit der Situation. Das Kind widersetzt sich seiner elenden Pflicht, Streichhölzer verkaufen zu müssen, indem es sie abbrennt. Es tut Verbotenes. Es zündelt.
In Lachenmanns Stück ist das ein markanter Moment: Die Reibungshitze des «Ritsch» wird Klang, eine Singstimme sagt: «Ich», und der Komponist macht in der Folge mit Textzitaten die Parallele zu einer anderen politischen Zündlerin auf - der deutschen RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, die an Banküberfällen und tödlichen Sprengstoffanschlägen beteiligt war und sich 1977 im Gefängnis das Leben nahm. Ensslins erstes «Ritsch» wider die gesellschaftlichen Verhältnisse war 1968, als sie in Frankfurt gemeinsam mit dem Terroristen Andreas Baader ein Kaufhaus in Brand steckte. Lachenmann kannte Ensslin aus Kindertagen, beide stammen aus schwäbisch-protestantischen Pastorenfamilien. Lachenmann hat in einem Interview erklärt, an Ensslins kriminellen Handlungen gebe es nichts zu entschuldigen, aber mit ihrer Verurteilung sei die Frage nach unserer Mitverantwortung für das, wogegen sie aufbegehrte, nicht abgehakt. Die Terroristin hat 1975 im Gefängnis einen Brief geschrieben, den Helmut Lachenmann im Mädchen mit den Schwefelhölzern zitiert: «der kriminelle, der wahnsinnige, der selbstmörder, sie verkörpern diesen widerspruch; sie verrecken in ihm (...) entweder du vernichtest dich selbst oder du vernichtest andere.» Die Briefstelle endet mit dem Satz: «schreibt auf unsere haut.»
Mit diesem Ensslin-Zitat legt Helmut Lachenmann politisches Feuer an Andersens Märchen. Obwohl sein Komponieren nie agitatorischen Charakter hat. Er kleidet keine Ideen in Töne, ist kein Propagandist politischer Botschaften, sondern er komponiert ganz konkret Geräusche, Gesangsvokalisen, Sprachpartikel, die zuallererst für sich selbst stehen und ihre eigene Hervorbringung mitreflektieren. Von schneidender Intensität sind sie und in ihrer Gestalt hochpräzise ersonnen, abstrakt und dennoch von dringlicher Bildhaftigkeit. Es gehe ihm nicht um das Hören einer Musik, hat Lachenmann einmal geschrieben, «die den traurigen Weltlauf durch Kratzgeräusche beklagt, aber auch nicht um eine Musik, die vor dieser Welt in irgendeine Klangexotik sich flüchtet, sondern um Musik, bei welcher unsere Wahrnehmung sensibel und aufmerksam wird im Grunde auf sich selbst». In diesem Wunsch nach Intensivierung der Wahrnehmung und in dem Appell, der Mensch möge genau hinhören und sich seiner Sinne hellwach bedienen, liegt das eigentlich Politische seiner kompositorischen Haltung. Wobei er Wahrnehmung nicht im Sinne eines meditativ andächtigen Sichhingebens meint. Es gehe in der Kunst «um einen humanen Anspruch», der mit «Verantwortung für seinen Sinnenapparat» zu tun habe «im Hinblick einer Wirklichkeit, die uns permanent Dinge vom Alltag verzerrt vorspiegelt». Einfach macht Helmut Lachenmann es uns mit dem Hören freilich nicht. Jeder Klang ist bei den von ihm verwendeten Instrumenten hinterfragt, aufgebrochen, im Hinblick auf seine Entstehungsbedingungen untersucht und dann neu und anders zusammengesetzt. Kaum ein Ton wird in seinen Partituren auf konventionelle Weise erzeugt. Weit ist das Feld der von ihm geforderten Spieltechniken, etwa das Spielen der Streichinstrumente hinter dem Steg, über dem Griffbrett, am Holz, mit fragilen Wisch- oder Klopfbewegungen - ein genau ertüfteltes Knarzen und Knirschen, Fauchen und Atmen, Reiben und Sirren in allen Instrumentengruppen. «Komponieren heisst, ein Instrument bauen», lautet ein Wahlspruch Lachenmanns, den inzwischen so viele Komponisten nachbeten, dass er ihn selbst kaum mehr hören mag. Sein Interesse an den Geräuschanteilen der Klänge und das damit verbundene beharrliche Kratzen am schönen Ton hat ihn in den ersten Jahrzehnten seines Schaffens in der öffentlichen Wahrnehmung zu etwas werden lassen, was er nie sein wollte ein vom bürgerlichen Kunstbetrieb angefeindeter (und von Teilen der Neue-Musik-Szene bewunderter) Agent provocateur. In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es Orchestermusiker, die seine Partituren mit der Haltung zurückwiesen, das sei keine Musik.
Inzwischen aber hat Lachenmann sich durchgesetzt als einer der bedeutendsten und weltweit anerkannten Komponisten der Gegenwart. Sein Musiktheater Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, das 1997 in Hamburg uraufgeführt wurde, trug wesentlich dazu bei. Es gehört zu den wenigen Grosswerken der zeitgenössischen Musik, die nach der Uraufführung nicht in der Schublade verschwunden sind, sondern mit zunehmendem Erfolg immer wieder aufgeführt wurden - in Stuttgart, Salzburg, Berlin, Frankfurt, aber auch in Japan und sogar in den USA. Lachenmanns Mädchen hat sich als eines der ganz grossen musikalischen Hörabenteuer der Gegenwart etabliert, ein Werk mit Kultcharakter. Es ist zum Referenzstück geworden für alle, die den Glauben an das Neue in der Neuen Musik noch nicht verloren haben, und ein weithin leuchtendes Beispiel dafür, dass zeitgenössische Musik trotz - oder gerade wegen - des Beharrens auf avanciertesten Kompositionsmethoden sehr wohl einen Weg zum Publikum finden kann. Insbesondere im Mädchen mit den Schwefelhölzern haben die Zuhörer nämlich zunehmend die Schönheit entdeckt, um die es Lachenmann immer ging. Sein Komponieren beruht zwar auf radikaler Struktur- und Materialbefragung, führt aber am Ende zu einer überwältigend sinnlichen Musik. Das hat auch mit dem faszinierenden Raumerlebnis zu tun, das Lachenmanns einziges Werk für das Musiktheater aufbietet: ChorsängerInnen und Instrumentalguppen sind im Zuschauerraum platziert, der Klangraum spannt sich rings um das Publikum auf. Wie das Stück mit solchen hochgesteckten Ansprüchen angemessen auf die Bühne zu bringen ist, gehört zu den Rätselfragen, von denen es seit seiner Uraufführung begleitet wird. Eine Oper ist es nämlich nicht. Lachenmann hat sein Werk selbst im Untertitel «Musik mit Bildern» genannt. Es gibt zwar zwei Sopranstimmen, die aber keineswegs das Mädchen personifizieren, viel eher sind sie dem instrumentalen und vokalen Apparat beigeordnet. Das Stück kennt keine Rollenidentitäten, es werden nicht, wie sonst in der Oper, Konflikte zwischen Individuen verhandelt, und es wird keine wörtliche Rede vertont. Handlung im Sinne illustrativer Programmmusik setzt die Komposition ebenfalls nicht in Töne. Andersens Text ist zwar allgegenwärtig in den 24 Bildern des Werks - in den Chorpassagen, in Wortzitaten, in Klanggesten - aber «mitlesen» kann ihn der Zuhörer kaum. Zu sehr ist er Teil der Komposition geworden. Lachenmann selbst sagt: «Ich erzähle die Geschichte nicht, sondern ich nehme sie als ‹Vor-Wand›». Wie eine Wand benutze er sie, «um mein Schwefelhölzchen daran zu entzünden». Seine «Schwefelhölzchen» sind seine Klänge, die das Geschehen teilweise wie unter einem Vergrösserungsglas zur musikalischen Darstellung bringen - etwa langgezogene Töne geriebener asiatischer Klangschalen für die sich ausbreitende Wärme des angezündeten Streichholzes oder kurze, wie in einem Adventskalender aufspringende, grellfarbige Klang-Bilder und Zitatfetzen bei den Traumvisionen des Mädchens von weihnachtlichem Glück, das Reibegeräusch von Styroporplatten als nihilistisches Rauschen und immer wieder das schmirgelnde «Ritsch» in allen erdenklichen Facetten.
Für jeden Regisseur, der das Stück auf die Bühne bringen will, wird es deshalb zur entscheidenden Herausforderung, dass Lachenmanns Klänge selbst schon Bilder und Zustandsbeschreibungen in Form von Musik sind. Sie szenisch nur zu verdoppeln, hiesse die Musik um ihre eigene Wirkung zu bringen. So gilt für die Regisseure wie für jeden Zuhörer im Saal, dass Lachenmanns Musiktheater auf neue Pfade der Kunsterfahrung führt. Das Mädchen mit den Schwefelhölzern führt uns in Terra incognita. Der Komponist selbst hat diesen Aufbruch ins Unbekannte in ein starkes Bild und eine Szene gekleidet, die Teil seines Werks ist. Im letzten Drittel nämlich unterbricht er vorübergehend Andersens Geschichte und fügt einen Abschnitt ein, den es auch als eigenständiges Konzertstück mit dem Titel Zwei Gefühle - Musik mit Leonardo gibt. Der diesem Abschnitt zugrundeliegende Text stammt von Leonardo da Vinci und imaginiert die Wanderung durch eine süditalienische Vulkanlandschaft über schrundiges Felsgestein, vorbei an scharfkantigen Kratern, gähnenden Erdspalten und fauchenden Fumarolen. Lachenmanns Musiktheater geht an dieser Stelle gewissermassen dem Ursprung des Schwefels an den Zündhölzern des Mädchens nach, springt vom bitterkalten Norden in den mediterranen Süden. Da Vincis Text wird von einem Sprecher vorgetragen (Helmut Lachenmann wird in Zürich als solcher selbst auf der Bühne stehen), in einer durchkomponierten Form, die die Sätze in Silben, Konsonanten und Vokale zerlegt, rhythmisiert und expressiv auflädt.
Die Szene erzählt von einer Grenzerfahrung. Ein einsamer Wanderer durchschreitet die vulkanische Welt, getrieben «von einer brennenden Begierde, das grosse Durcheinander der verschiedenen und seltsamen Formen wahrzunehmen, die die sinnreiche Natur hervorgebracht hat». Er lässt sich vor einer Höhle nieder, in der «grosse Dunkelheit» herrscht, und verharrt dort. Das Höhlendunkel erscheint ihm als das Unbekannte und geheimnisvoll Andere, das völlig ausserhalb seiner Erfahrung liegt. Er zögert, in die Höhle hineinzublicken. «Als ich aber geraume Zeit verharrt hatte», fährt der Text fort, «erwachten plötzlich in mir zwei Gefühle: Furcht und Verlangen. Furcht vor der drohenden Dunkelheit der Höhle, Verlangen aber, mit eigenen Augen zu sehen, was darin an Wunderbarem sein möchte.» Wie es dem Wanderer ergeht, so mag es auch dem Zuhörer in Das Mädchen mit den Schwefelhölzern ergehen. Man muss den Mut haben, ins Unbekannte hineinzulauschen, um wahrzunehmen, was an Wunderbarem sich darin findet.
Text von Claus Spahn.
Foto von Emilio Pomàrico.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 72, Oktober 2019.
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Probeneinblick
Dirigent Matthias Hermann über die Arbeit an Helmut Lachenmanns «Das Mädchen mit den Schwefelhölzern» mit der Philharmonia Zürich.
Volker Hagedorn trifft ...
«Mittags sitzen da Scharen von Justizleuten», meint Rufus Didwiszus. Man hört auch Scharen von Kindern durch die offenen Fenster des Ateliers, in dem Rufus arbeitet und wo es aussieht, als habe in Berlin nie eine Gentrifizierung stattgefunden. An der Decke in etwa fünf Metern Höhe blättert zartrosa Anstrich aus Helmut Kohls Zeiten, das Rohr eines kleinen Ofens mündet direkt in den Putz. Und an den Wänden lehnen Grossformate, rätselvolle Holzdrucke voller Zeichen und Reihen. Sie sind nicht von Rufus Didwiszus, sondern von dem Künstler, mit dem sich der Bühnenbildner die Arbeitsräume teilt. Auf einem Tisch steht ein unfertiges Modell für die übernächste Produktion in Zürich. Davor kommt Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern. Darüber unterhalten wir uns am gewaltigen, nur knapp kniehohen Tisch, an dem sich Rufus auch mit Christian Spuck in das Thema hineingetastet hat. «Er kommt gern nach Berlin, weil bei ihm in Zürich dauernd das Telefon klingelt», sagt er, ein schmaler, hellwacher, rasch redender Mittfünfziger. «Hier sitzen wir zwei, drei Tage, hören die Musik an, jeder schweigt und macht so sein Zeug, und wenn einem was einfällt, dann sagt er das. Das funktioniert so am besten.»
Wie gut, konnte man in den Zürcher Ballettproduktionen Nussknacker und Winterreise erleben. Aber Helmut Lachenmanns Mädchen erschliesst sich nicht so leicht wie Tschaikowski und Schubert. «Ich hörte das Stück vor ein paar Jahren in der Deutschen Oper, das war ein Erlebnis. Aber als ich dazu recherchierte, habe ich gedacht, ich sei zu doof, und das Stück zu intellektuell für mich - bis wir Helmut Lachenmann trafen. Er kam mit seiner riesigen Partitur und ging sie Seite für Seite mit uns durch. Er hatte zuvor selbst lange nicht mehr reingeguckt und war gespannt. Der Mann hat sehr viel Humor. Und es ist auch viel Gefühl in der Musik.»
Rufus erkundete, was im Mädchen zusammenkommt - die Verbindung etwa von der frierenden kleinen Streichholzverkäuferin zur Terroristin Gudrun Ensslin, die ebenfalls «zündelte». «Es geht um den ersten Schritt, nach dem es kein Zurück gibt, ein Schritt aufgrund äusserer oder innerer Kälte - und gegenüber dem politischen Ansatz gibt es diese grosse Lust an Klängen. Nachdem ich dieses Spannungsfeld kapiert hatte, war ich drin.» Und sobald Rufus drin ist, wird er zum Eremiten. «Für den Entwurf muss ich allein sein. Das ist wie eine Suche im Nebel. Wenn in dem Moment jemand etwas Falsches sagt oder etwas anderes in dem sieht, was mir vorschwebt, biege ich zu früh ab.»
Dass der Bühnenbildner Rufus Didwiszus heute zu den gefragten der Zunft zählt, liegt daran, dass er mal spontan abgebogen ist, mit 20 Jahren. «Ich hatte immer gemalt, wie viele Freunde, ohne Plan, und war zu der Zeit in Stuttgart, wo man an der Akademie Bühnenbild studieren konnte. Ich war nie im Theater gewesen, dachte aber, Bühnenbild, da ist doch ein bisschen was von allem dabei. Bewerb ich mich mal...» Über Professor Jürgen Rose wusste er nichts, den grossen Zauberer, wie denn auch. «Man musste als Bewerber erklären, was einen am Theater interessiert, da hab ich improvisiert. Das ist ihm bestimmt nicht entgangen. Aber irgendetwas fand er daran gut.» Rufus landete «in einem verrückten Jahrgang mit tollen Leuten». Rose ging es nie um die spätere Praxis. Wir sollten die eigene Kreativität, den eigenen Ausdruck finden. Er meinte, wenn jemand mit Bleistift entwerfe, müsse das Bühnenbild am Ende anders aussehen als bei jemandem, der mit Collagen beginnt. «Am Ende muss man immer noch die Skizze erkennen.»
Und man braucht Utopie. «Ohne kann man es gar nicht machen. Es ist ja absurd, dass erwachsene Menschen in ein Pappgebilde gucken und das für den Moment ernstnehmen. Das geht nur, weil wir uns alle darauf verständigt haben. Und Rose hat das gelebt mit seiner Begeisterung. Durch ihn hat mich das interessiert.» Nach fünf glücklichen Jahren nahm Rose ihn als Assistenten mit an die Münchner Kammerspiele, «der Ritterschlag! Aber ich sollte mit einem jungen Regisseur und einem Bühnenbildner arbeiten, die ich aus vollster Seele gehasst habe, arrogante Typen. In der Kantine habe ich mich bei einem anderen jungen Regisseur ausgekotzt, der hat mir dann eine Chance gegeben.» Für Christian Stückls Regie von Roberto Zucco schuf Rufus Didwiszus sein erstes Bühnenbild. «Danach dachte ich: Jetzt bin ich Bühnenbildner und kein Assistent mehr. Der Rest der Welt wusste das aber nicht - und es kamen ein paar Hungerjahre, in denen mir Mathias wahnsinnig geholfen hat.» Mathias Hornung hatte mit ihm studiert, war dann bildender Künstler geworden, und ist derjenige, mit dem sich Rufus noch heute das Atelier teilt. «Ich hätte in Berlin damals künstlerisch nicht überlebt, wenn ich nicht in all seinen Ateliers mitgesessen hätte. Ich habe Wohnungen renoviert und Böden abgezogen mit einem Freund, der einen kleinen Handwerksbetrieb hatte. Ich war ganz schlecht darin. Wenn die Tür zufiel, kam der Putz von der Wand.»
Er war ein unterbeschäftigter Bühnenbildner Anfang dreissig, als er in die «Baracke» des Deutschen Theaters in Berlin ging, «alle gingen hin, es waren Ostermeiers erste Theaterarbeiten. Und ich dachte, ah, hier sind meine Leute!» Irgendwann sass er neben Thomas Ostermeier, und der sagte: «Ich brauche einen Bühnenbildner für Shoppen und Ficken. Hab’ gehört, du bist einer.» Mark Ravenhills Theaterstück wurde Ostermeiers grosser Erfolg und Rufus war von da an in der Baracke des Deutschen Theaters dabei. «Das waren drei Jahre gelebter Utopie. Was da alles zusammenkam! Unvergesslich. Das würde heute nicht mehr gehen, ist aber auch nicht schlimm, wenn man es erlebt hat.» 2004 arbeitete er an der Schaubühne erstmals mit der Musikperformerin Joanna Dudley zusammen, die jetzt seine Frau ist. Sie machten eigene kleine Produktionen, lange ehe Barrie Kosky anrief und Rufus zur ersten Oper verhalf: La fanciulla del West in Zürich. Hat er eine musikalische Prägung? Er lacht. «Das war ein typisches Waldorfschülerding. Neun Jahre Geige, um dann festzustellen, dass die Geige in der Rockband nicht so sexy ist, also wurde sie in die Ecke gelegt.»
Jetzt hat er noch zwei Tage für das jüngste Modell. «Ich mache nur wenige Zeichnungen. Wahnsinnig viel Pappe, die dabei draufgeht. Wie klar auch immer es im Kopf war, im Modell ist es nie so. Oft wird es anders als geplant, durch Farbe, durch Fehler, aber besser. Es geht nur über die Hände. Und das Modell muss auch als Objekt etwas besonderes sein.» Wenn die Werkstätten es dann bühnengross realisiert haben, «dann wissen die in der Komischen Oper und in Zürich schon, dass Rufus am Ende mit seinem Farbeimer kommt. Dass ich noch mal Hand anlege oder irgendwo ein Loch reinhaue, damit es weniger ordentlich aussieht. Manchmal ist es so, dass wirklich etwas fehlt, wofür ich keine Erklärung habe. Aber zum Teil hat es auch damit zu tun, dass ich mir das Bühnenbild zurückholen will. Ich sitze davor und denke, ich habe ja gar nichts darin angefasst!»
Und ein bisschen Chaos muss wohl auch sein, wie in der Kirchstrasse. Voriges Jahr ist Rufus mal in ein ordentliches Atelier umgezogen, mit glatten weissen Wänden. «Ich dachte, ich muss jetzt mal erwachsen werden, bei den vielen Aufträgen. Ich bin zurückgekommen, weil mir die Anarchie gefehlt hat!»
Text von Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 72, Oktober 2019.
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Essay
In der Vorstellung Das Mädchen mit den Schwefelhölzern lassen wir es schneien. Mal dicht, mal sehr dünn, mal schneit es im Takt der Musik, mal über die ganze Bühnenbreite, dann wieder nur punktuell, selten gar nicht. Der Schnee fällt wunderbar sanft auf Tänzerinnen und Tänzer, bleibt in den Kostümen hängen und schneit dann aus den Kostümen bei jeder Bewegung der Tanzenden auf die Bühne. Bald bedeckt er den ganzen Boden.
Wer wissen möchte, woher der Schnee kommt und sich nicht mit der Antwort «von oben» zufriedenstellen lässt, der muss mir jetzt, kurz vor der Vorstellung des Mädchens mit den Schwefelhölzern, auf die Bühne folgen. Das Bühnenbild ist bereits aufgebaut, und soeben füllen zwei Requisiteurinnen ein Schneetuch mit Schnee aus grossen Säcken. Ein Schneetuch ist etwas, was man nicht kaufen kann. Auch nicht im Internet. Sie finden dort noch nicht einmal einen Eintrag in Wikipedia. Anleitung zum Nachbau: Wenn Sie es in einer Breite von 12 Metern schneien lassen möchten, nehmen Sie ein 16 m langes und 3 m breites Bettlaken und schneiden mittig ein 12 m langes und 50 cm breites Loch hinein. In dieses Loch nähen Sie ein Netz ein, Maschen weite: 2,5 cm. Fertig ist das Schneetuch. Nun noch an den beiden langen Seiten alle 50 cm einen Schnürsenkel annähen, mit dessen Hilfe Sie das Tuch an Ihren Zugstangen befestigen können.
Zugstangen sind an Seilen aufgehängte Metallrohre, an denen wir alles Mögliche befestigen können, um es hochzuziehen. Heute, kurz vor der Vorstellung, hat die Bühnentechnik das 16 m lange Tuch der Länge nach zwischen zwei benachbarten Zugstangen eingebunden, und es bildet einen 16 m langen, 2 m tiefen Sack, der soeben mit Schnee befüllt worden ist. Wenn Sie nun in den Schnee greifen, stellen Sie fest, dass dieser wunderbar weich ist und dass es sich bei jeder Flocke um eine hauchdünne, zerrupfte und geknüllte Kunststofffolie handelt. Die Flocken kann man säckeweise unter dem Namen «Hollywoodschnee» im Internet kaufen. Sie bestehen aus umweltverträglichem Polyethylen, das in der Müllverbrennungsanlage in CO2 und Wasser zerfällt. Aber noch wartet dieser Schnee auf seinen Einsatz.
Jetzt gibt der Bühnenmeister dem Schnürmeister das Zeichen, die beiden Zugstangen langsam bis weit über das Bühnenbild hochzuziehen. Erstaunlicherweise fallen dabei nur wenige Flocken durch das Netz: Der Schnee blockiert sich selbst - ähnlich wie Mehl in einem Sieb.
Um Ihnen zu zeigen, wie es schneit, lässt jetzt der Schnürmeister die beiden Zugstangen sich langsam gegenläufig bewegen - die eine auf und die andere ab -, immer nur 50 cm hoch und runter. Dadurch kommt Bewegung in den Schnee, und viele Flocken werden bei dieser Bewegung durch das Netz gedrückt und fallen langsam zu Boden. Die Menge an Flocken, die durch das Netz fallen, hängt von der Geschwindigkeit ab, mit der wir die Zugstangen bewegen. Die Maschengrösse spielt auch eine ganz entscheidende Rolle: Ist sie zu klein, kommen nur ganz wenige oder keine Flocken hinaus, ist sie zu gross, so fallen Flockenklumpen auf die Bühne.
Da die Flocken sehr leicht sind und beim Fallen verwirbeln, deckt ein Schneetuch eine Breite von ungefähr 19 m und eine Tiefe von ca. 3 m ab. Damit es auf der ganzen Bühne schneit, haben wir drei Schneetücher an verschiedenen Orten eingesetzt, aus denen etwas mehr als ein Kubikmeter Schnee während der Vorstellung schneit.
Vielen Dank, dass Sie mir auf die Bühne gefolgt sind, und vergessen Sie nicht, die Schneeflocken aus Ihrer Kleidung und von Ihren Schuhen zu entfernen - sonst finden Sie diese noch Tage später überall in Ihrer Wohnung...
Text von Sebastian Bogatu.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 73, Oktober 2019.
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Biografien
Christian Spuck, Choreografie und Inszenierung
Christian Spuck
Christian Spuck stammt aus Marburg und wurde an der John Cranko Schule in Stuttgart ausgebildet. Seine tänzerische Laufbahn begann er in Jan Lauwers’ Needcompany und Anne Teresa de Keersmaekers Ensemble «Rosas». 1995 wurde er Mitglied des Stuttgarter Balletts und war von 2001 bis 2012 Hauschoreograf der Compagnie. In Stuttgart kreierte er fünfzehn Uraufführungen, darunter die Handlungsballette Lulu. Eine Monstretragödie nach Frank Wedekind, Der Sandmann und Das Fräulein von S. nach E.T.A. Hoffmann. Darüber hinaus hat Christian Spuck mit zahlreichen namhaften Ballettcompagnien in Europa und den USA gearbeitet. Für das Königliche Ballett Flandern entstand 2006 The Return of Ulysses, beim Norwegischen Nationalballett Oslo wurde Woyzeck nach Georg Büchner uraufgeführt. Das Ballett Die Kinder beim Aalto Ballett Essen wurde für den «Prix Benois de la Danse» nominiert, das ebenfalls in Essen uraufgeführte Ballett Leonce und Lena nach Georg Büchner wurde von den Grands Ballets Canadiens de Montréal, dem Charlotte Ballet, USA, dem Tschechischen Nationalballett Prag und vom Stuttgarter Ballett übernommen. Die Uraufführung von Poppea//Poppea für Gauthier Dance am Theaterhaus Stuttgart wurde 2010 von der Zeitschrift «Dance Europe» zu den zehn erfolgreichsten Tanzproduktionen weltweit gewählt sowie mit dem deutschen Theaterpreis Der Faust 2011 und dem italienischen «Danza/Danza-Award» ausgezeichnet. Christian Spuck hat auch Opern inszeniert: Auf Glucks Orphée et Euridice an der Staatsoper Stuttgart folgten Verdis Falstaff am Staatstheater Wiesbaden sowie Berlioz’ La Damnation de Faust und Wagners Fliegender Holländer an der Deutschen Oper Berlin. Von 2012 bis 2023 war Christian Spuck Direktor des Balletts Zürich. Hier waren seine Choreografien Romeo und Julia, Leonce und Lena, Woyzeck, Der Sandmann, Messa da Requiem, Nussknacker und Mausekönig, Dornröschen und Monteverdi zu sehen. Das 2014 in Zürich uraufgeführte Ballett Anna Karenina nach Lew Tolstoi wurde in Oslo, am Moskauer Stanislawski-Theater, vom Koreanischen Nationalballett und vom Bayerischen Staatsballett ins Repertoire übernommen. 2018 hatte in Zürich Spucks Ballett Winterreise Premiere, für das er mit dem «Prix Benois de la Danse 2019» ausgezeichnet wurde. 2019 folgte beim Ballett Zürich Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (Auszeichnung als «Produktion des Jahres und Kompanie des Jahres für das Ballett Zürich durch die Zeitschrift tanz). Für das Moskauer Bolschoitheater kreierte er 2021 sein Ballett Orlando nach Virginia Woolf. Spucks Messa da Requiem wurde nicht nur zum Adelaide Festival nach Australien eingeladen, sondern auch vom Het Nationale Oper & Ballet Amsterdam und vom Finnischen Nationalballett übernommen. Seit Beginn der Saison 2023/24 ist Christian Spuck Intendant des Staatsballetts Berlin.
Helmut Lachenmann, Musik / Sprecher
Helmut Lachenmann
Helmut Lachenmann wurde 1935 in Stuttgart geboren, wo er zunächst Klavier bei Jürgen Uhde sowie Theorie und Kontrapunkt bei Johann Nepomuk David studierte. Von 1958 bis 1960 folgten Studien der Komposition bei Luigi Nono in Venedig. 1962 trat er zum ersten Mal öffentlich als Komponist in Erscheinung: bei der Biennale in Venedig und bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt. Ab 1966 ging Helmut Lachenmann auch einer intensiven Lehrtätigkeit nach: so unterrichtete er Musiktheorie an der Musikhochschule Stuttgart (1966-1970) und hatte dort von1981 bis 1999 eine Professur für Komposition inne. Er war Dozent für Musik an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg (1970.1976), Professor für Komposition an der Musikhochschule Hannover (1976-1981) sowie mehrfach Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik und gab weltweit Kompositionsseminare. 2008 war er Fromm Visiting Professor an der Harvard University. Helmut Lachenmann erhielt für sein Werk zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bach-Preis Hamburg, den Musikpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung, den Royal Philharmonic Society Award London, den Berliner Kunstpreis, den Goldenen Löwen der Biennale Venedig für sein Lebenswerk, das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse und den Hans-Christian-Andersen-Preis. Er ist Ehrendoktor der Musikhochschulen Hannover, Dresden und Köln und Mitglied der Akademien der Künste in Berlin, Hamburg, Leipzig, Mannheim und München sowie der Belgischen Akademie der Wissenschaften, Literatur und Künste. Seit 2012 ist er Commandant des Arts et des Lettres. 1997 wurde Das Mädchen mit den Schwefelhölzern an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt und gilt seitdem als eines der bedeutendsten Musiktheaterwerke des 20. Jahrhunderts. Helmut Lachenmanns Schriften aus den Jahren 1966-1995 sind in dem Band Musik als existentielle Erfahrung vereint. Zu seinen jüngsten Kompositionen gehört My Melodies für acht Hörner und Orchester, die 2018 vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Peter Eötvös uraufgeführt wurden.
Matthias Hermann, Musikalische Leitung
Matthias Hermann
Matthias Hermann ist Professor für Musiktheorie, Dirigent und Komponist. Er wurde in Ludwigsburg geboren und studierte Schulmusik, Germanistik und Dirigieren. Er war Schüler von Helmut Lachenmann, mit dem ihn eine langjährige Zusammenarbeit verbindet. Seit 1987 unterrichtet er an der HMDK Stuttgart, seit 1991 als Professor. 2007 wurde er Prorektor der Hochschule. In seiner Promotion Kompositorische Verfahren in Musik zwischen 1975 und 2003 (2013) befasste sich Hermann mit den Komponisten Pierre Boulez, Morton Feldman, Manuel Hidalgo, György Kurtág, Helmut Lachenmann und Luigi Nono. Hermann ist ausserdem Autor von Büchern zur Analyse Neuer Musik, zu musikalischen Formen in Barock und Klassik sowie zu Rundfunksendungen über Neue Musik. Als Gastdirigent trat Matthias Hermann u. a. an der Deutschen Oper Berlin und der Oper Frankfurt, mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, dem ORTVE Madrid, dem Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI Torino, dem Orquestra Sinfónica do Porto, dem Radio-Symphonieorchester Wien, dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, dem Tokyo Symphony Orchestra und dem Taipeh National Symphony Orchestra auf. Mit Das Mädchen mit den Schwefelhölzern debütiert er am Opernhaus Zürich.
Rufus Didwiszus, Bühnenbild
Rufus Didwiszus
Rufus Didwiszus studierte Bühnen- und Kostümbild in Stuttgart bei Jürgen Rose und arbeitet seither als freier Bühnenbildner in Theater-, Opern- und Tanzproduktionen, u. a. mit Barrie Kosky (La Belle Hélène, Die Perlen der Cleopatra und Anatevka an der Komischen Oper Berlin; La fanciulla del West, Die Gezeichneten und Boris Godunow am Opernhaus Zürich; Orphée aux enfers, Salzburger Festspiele; Fürst Igor, Opéra de Paris; Der Rosenkavalier, Bayerische Staatsoper), Thomas Ostermeier (u.a. Shoppen &Ficken in der Baracke des Deutschen Theaters Berlin mit Einladung zum Berliner Theatertreffen und nach Avignon; Der blaue Vogel am Deutschen Theater, Feuergesicht am Schauspielhaus Hamburg, Der Name bei den Salzburger Festspielen und an der Berliner Schaubühne, The Girl on the Sofa beim Edinburgh International Festival und an der Schaubühne, Vor Sonnenaufgang an den Münchner Kammerspielen), Sasha Waltz, Tom Kühnel, Christian Stückl, Stefan Larsson, Tomas Alfredson und Christian Lollike. Seit 2004 entwirft und inszeniert Rufus Didwiszus mit Joanna Dudley eigene Musik-Theater-Performances, u. a. in den Sophiensaelen, an der Schaubühne und im Radialsystem in Berlin sowie im BOZAR in Brüssel. Mit seiner Band «Friedrichs» war er in Der weisse Wolf am Staatstheater Stuttgart zu sehen. Zudem war er als Gastdozent an der Akademie der Bildenden Künste München und an der Kunsthochschule Berlin-Weissensee tätig. Für Christian Spuck entstanden die Bühnenbilder zu Der fliegende Holländer an der Deutschen Oper Berlin, Nussknacker und Mausekönig, Winterreise, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, Dornröschen und Monteverdi beim Ballett Zürich sowie Orlando am Moskauer Bolschoitheater.
Emma Ryott, Kostüme
Emma Ryott
Emma Ryott stammt aus England und ist international als Kostüm- und Bühnenbildnerin tätig. Bereits seit 2003 arbeitet sie mit Christian Spuck in den Bereichen Ballett und Oper zusammen. Gemeinsame Ballettprojekte waren Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, Winterreise, Messa da Requiem, Anna Karenina und Romeo und Julia in Zürich, Lulu. Eine Monstretragödie und Das Fräulein von S. in Stuttgart, Woyzeck in Oslo und Zürich, Leonce und Lena in Montréal, Stuttgart, Zürich und Prag, Der Sandmann in Stuttgart und Zürich sowie The Return of Ulysses in Antwerpen. In der Oper arbeiteten sie bei Der fliegende Holländer und La Damnation de Faust an der Deutschen Oper Berlin, Falstaff in Wiesbaden und Orfeo ed Euridice in Stuttgart zusammen. Weitere Opernproduktionen waren Mathis der Maler am Theater an der Wien, Manon Lescaut an der English National Opera, Otello bei den Salzburger Festspielen, La Damnation de Faust und The Great Gatsby an der Semperoper Dresden, Marco Polo an der Oper Guanghzou, Das Rheingold und Die Walküre beim Longborough Festival sowie La bohème beim Copenhagen Opera Festival. Im Schauspiel entwarf Emma Ryott die Kostüme für The Heart of Robin Hood bei der Royal Shakespeare Company und Toronto (Auszeichnung mit dem Elliot Norton Award), für Tom Stoppards Rock’n Roll im Londoner West End und am Broadway sowie eine Tschechow-Trilogie (Regie: Jonathan Kent) am National Theatre in London. Für das weltweit vom ORF übertragene Neujahrskonzert 2020 der Wiener Philharmoniker gestaltete Emma Ryott die Kostüme für das Ballett. Weitere Ballettprojekte waren Cinderella beim Finnish National Ballet sowie Christian Spucks Orlando und Yuri Possokhovs Die Möwe am Moskauer Bolschoitheater.
Martin Gebhardt, Lichtgestaltung
Martin Gebhardt
Martin Gebhardt war Lichtgestalter und Beleuchtungsmeister bei John Neumeiers Hamburg Ballett. Ab 2002 arbeitete er mit Heinz Spoerli und dem Ballett Zürich zusammen. Ballettproduktionen der beiden Compagnien führten ihn an renommierte Theater in Europa, Asien und Amerika. Am Opernhaus Zürich schuf er das Lichtdesign für Inszenierungen von Jürgen Flimm, Grischa Asagaroff, Matthias Hartmann, David Pountney, Moshe Leiser/Patrice Caurier, Damiano Michieletto und Achim Freyer. Bei den Salzburger Festspielen kreierte er die Lichtgestaltung für La bohème und eine Neufassung von Spoerlis Der Tod und das Mädchen. Seit der Spielzeit 2012/13 ist Martin Gebhardt Leiter der Beleuchtung am Opernhaus Zürich. Eine enge Zusammenarbeit verbindet ihn heute mit dem Choreografen Christian Spuck (u. a. Winterreise, Nussknacker und Mausekönig, Messa da Requiem, Anna Karenina, Woyzeck, Der Sandmann, Leonce und Lena, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, Dornröschen). Er war ausserdem Lichtdesigner für die Choreografen Edward Clug (u.a. Strings, Le Sacre du printemps und Faust in Zürich; Petruschka am Moskauer Bolschoitheater), Alexei Ratmansky, Wayne McGregor, Marco Goecke und Douglas Lee. Mit Christoph Marthaler und Anna Viebrock arbeitete er beim Händel-Abend Sale, Rossinis Il viaggio a Reims und Glucks Orfeo ed Euridice in Zürich sowie bei Lulu an der Hamburgischen Staatsoper. 2020 gestaltete er das Licht an der Oper Genf für Les Huguenots in der Regie von Jossi Wieler und Sergio Morabito. 2021 folgte Christian Spucks Orlando am Moskauer Bolschoitheater und 2022 Don Giovanni am New National Theatre Toyko.
Tieni Burkhalter, Video-Design
Tieni Burkhalter
Tieni Burkhalter studierte Bildende Kunst an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), wo er sich auf Video und Videoinstallation spezialisierte. Seine Werke wurden sowohl an Ausstellungen als auch an Experimentalfilmfestivals, u. a. der Videoex in Zürich und der Biennale de l’image en mouvement in Genf, gezeigt. Daneben war er als freier Mitarbeiter für das Schweizer Fernsehen sowie für verschiedene Filmagenturen als Kameramann und Ausstatter tätig und unterstützt bis heute zahlreiche Zürcher Galerien in Zusammenarbeit mit ihren Künstler:innen. Seit 2009 ist er als Videoproduzent für die Bühne tätig: Am Opernhaus Zürich waren seine Arbeiten bisher Teil von Der fliegende Holländer und Land des Lächelns (Andreas Homoki), A-Life (Choreografie: Douglas Lee), Anna Karenina und Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (Christian Spuck), Pelléas et Mélisande und Die Sache Makropulos (Dmitri Tcherniakov), Faust (Edward Clug), Coraline (Nina Russi), Il trovatore (Adele Thomas) und Die Odyssee (Rainer Holzapfel). Für Dmitri Tcherniakov produzierte er ferner das Videodesign für Senza Sangue /Herzog Blaubarts Burg an der Staatsoper Hamburg, La Fille de Neige und Les Troyens an der Opéra National de Paris und Tristan und Isolde an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin.
Raphael Immoos, Choreinstudierung
Raphael Immoos
Raphael Immoos ist Professor für Chorleitung und Dirigent verschiedener Vokalensembles an der Hochschule für Musik in Basel sowie künstlerischer Leiter der Sommerakademie Thun. Von 2000 bis 2013 dirigierte er das Akademische Orchester Basel und von 2004 bis 2013 das Vokalensemble Cappella Nova. Seit 2013 hat Raphael Immoos die künstlerische Leitung der Basler Madrigalisten inne. Rundfunk- und CD-Aufnahmen, Gastauftritte bei Chören und Orchestern sowie Jurorenämter und Meisterkurse im In- und Ausland dokumentieren seine vielseitige Tätigkeit. Besondere Anliegen sind Raphael Immoos die Recherche selten aufgeführter Werke des 17. und 18. Jahrhunderts sowie die Pflege und Förderung neuer Musik unserer Zeit mit zahlreichen Ur- und Schweizer Erstaufführungen, u. a. von Thomas Jennefelt, Frederico Zimmermann Aranha, Barry Mills, Yuri Lanyuk, Georg Friedrich Haas, Andreas Fervers, Eric Oña, Hans-Martin Linde und von Schweizer Komponisten wie Thüring Bräm, Beat Furrer, Caspar Diethelm, Heinz Holliger, Christian Henking, Javier Hagen, Beat Gysin, Mela Meierhans, Rudolf Jaggi, Franz Rechsteiner, Michel Roth, Thomas Kessler, Alfred Knüsel, Roland Moser und Jürg Wyttenbach.
Claus Spahn, Dramaturgie
Claus Spahn
Claus Spahn ist seit 2012 Chefdramaturg am Opernhaus Zürich. In dieser Funktion ist er massgeblich an der Spielplangestaltung des Hauses beteiligt. Er ist als Produktionsdramaturg tätig und verantwortet die zentralen Publikationen des Opernhauses wie Programmbücher, das monatliche Magazin MAG, Podcasts und Werkeinführungen. Sein Interesse gilt vor allem der modernen und zeitgenössischen Musik, dem Opernrepertoire des Barock und der Entwicklung neuer musiktheatralischer Konzepte. Er hat am Opernhaus Zürich Musiktheaterprojekte von Wolfgang Rihm, Helmut Lachenmann, George Benjamin, Roman Haubenstock-Ramati und Uraufführungen von Heinz Holliger, Christian Jost und Stefan Wirth betreut Als Produktionsdramaturg hat er für die Regisseure Sebastian Baumgarten, Herbert Fritsch, Jan Philipp Gloger, Tatjana Gürbaca, Andreas Homoki, Barrie Kosky, Nadja Loschky, David Marton und Evgeni Titov gearbeitet. Eine enge künstlerische Partnerschaft verbindet ihn ausserdem mit dem Choreografen und ehemaligen Direktor des Balletts Zürich, Christian Spuck. Für Christian Spuck war er in Zürich stückentwickelnd an den Produktionen Anna Karenina, Nussknacker und Mausekönig und Monteverdi beteiligt und hat Libretti für die Ballette Orlando nach Virginia Woolf (Uraufführung 2021 am Moskauer Bolshoi-Ballett) und Bovary nach Gustave Flaubert (Uraufführung 2023 am Berliner Staatsballett) geschrieben. Ausserdem ist er Librettist der Kammeroper Der Traum von Dir des Schweizer Komponisten Xavier Dayer, die 2017 am Opernhaus Zürich uraufgeführt wurde.
Bevor er ans Opernhaus Zürich wechselte, war Claus Spahn 14 Jahre lang Feuilletonredakteur bei der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT und dort verantwortlich für das Fachressort Musik. Von 1990-1997 war er als freier Musikjournalist vor allem für die Süddeutsche Zeitung und den Bayerischen Rundfunk tätig. In seiner Funktion als Journalist hat er die Entwicklungen des internationalen Kultur-, Musik- und Opernbetriebs über Jahrzehnte hinweg beobachtet und kommentiert, war Radio-Moderator, Juror bei Internationalen Musikwettbewerben und Workshopleiter für kulturjournalistisches Schreiben. Claus Spahn ist in Deutschland geboren, hat in Freiburg im Breisgau klassische Gitarre studiert und eine Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München absolviert.
Michael Küster, Dramaturgie
Michael Küster
Michael Küster stammt aus Wernigerode (Harz). Nach dem Studium der Germanistik, Kunst- und Sprechwissenschaft an der Universität Halle war er Moderator, Autor und Sprecher bei verschiedenen Rundfunkanstalten in Deutschland. Dort präsentierte er eine Vielzahl von Klassik-Programmen und Live-Übertragungen wichtiger Konzertereignisse, u. a. aus der Metropolitan Opera New York, der Semperoper Dresden und dem Leipziger Gewandhaus. Seit 2002 ist er Dramaturg am Opernhaus Zürich, u. a. für Regisseure wie Matthias Hartmann, David Alden, Robert Carsen, Moshe Leiser/ Patrice Caurier, Damiano Michieletto, David Pountney, Johannes Schaaf und Graham Vick. Als Dramaturg des Balletts Zürich arbeitete Michael Küster seit 2012 u. a. mit Cathy Marston, Marco Goecke, Marcos Morau, Edward Clug, Alexei Ratmansky, William Forsythe, Jiří Kylián und Hans van Manen, vor allem aber mit Christian Spuck zusammen (u. a. Romeo und Julia, Messa da Requiem, Winterreise, Dornröschen). An der Mailänder Scala war er Dramaturg für Matthias Hartmanns Operninszenierungen von Der Freischütz, Idomeneo und Pique Dame.
Alina Adamski, Sopran 1
Alina Adamski
Alina Adamski studierte an der Musikakademie in Łódź, an der Opernakademie der Warschauer Oper sowie am Conservatorio di Musica Francesco Venezze in Rovigo. 2017 war sie Mitglied des «Young Singers Project» bei den Salzburger Festspielen, wo sie als Frau Silberklang in Mozarts Der Schauspieldirektor zu erleben war. 2018 war sie Mitglied der Internationalen Meistersinger Akademie in Neumarkt. 2014 gewann sie den Wettbewerb «Bernsteinsaite» in Włocławek, 2015 den Kammermusik- sowie den Paderewski-Wettbewerb in Bydgoszcz und erhielt beim Stanisław Moniuszko-Wettbewerb in Warschau eine Auszeichnung für die «Beste Aufführung eines zeitgenössischen Liedes». Ausserdem war sie Preisträgerin beim Grand Prix de l'Opéra in Bukarest. Am Opernhaus in Łódź debütierte sie 2013 als Rosina (Il barbiere di Siviglia) und sang 2014 Arsena (Der Zigeunerbaron). In Warschau und Poznań gastierte sie als Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte. Von 2017 bis 2019 war sie Mitglied des Internationalen Opernstudios in Zürich und war in dieser Zeit u.a. als Sandrina in Mozarts La Finta Giardiniera, als Amanda in Ligetis Le Gran Macabre oder als Atala in Offenbachs Häuptling Abendwind zu hören. Als Sopran in Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern und als Maria Bellacanta in Hexe Hillary geht in die Oper kehrte sie seither nach Zürich zurück. Jüngste Höhepunkte waren u.a. Waldvogel (Siegfried) im Gewandhaus zu Leipzig, Gilda (Rigoletto) an der Oper Halle, Madam Mao (Nixon in China) in Stuttgart und Giunia (Lucio Silla) am Salzburger Landestheater.
Yuko Kakuta, Sopran 2
Yuko Kakuta
Yuko Kakuta stammt aus Japan. Sie studierte Gesang an der Musikhochschule ihrer Heimatstadt, an der Staatlichen Universität der Künste in Kyoto und an der Universität der Künste in Berlin. Bei den Festspielen in Aix-en-Provence debütierte sie als Hermia in Brittens A Midsummer Night’s Dream. Von 2002 bis 2006 war sie Ensemblemitglied der Staatsoper Hannover, von 2006 bis 2018 gehörte sie der Staatsoper Stuttgart an. Hier sang sie u.a. Adele (Die Fledermaus), das Kind in Chaya Czernowins Kammeroper Pnima, Rosina (Il barbiere di Siviglia), Ilia (Idomeneo), Celia (Lucio Silla), Despina (Così fan tutte), Susanna (Le nozze di Figaro), Amor (Orphée et Eurydice), Musetta (La bohème), Morgana (Alcina) und Cupido (Orpheus in der Unterwelt). Sie war Solistin der zeitopern-Produktion GOT LOST mit Musik von Helmut Lachenmann und gastierte damit am Theater Bern, bei der Salzburger Biennale und an der Oper Frankfurt. In Das Mädchen mit den Schwefelhölzern war sie an der Deutschen Oper Berlin, bei der Ruhrtriennale und am Teatro Colón in Buenos Aires zu erleben. Die Königin der Nacht (Die Zauberflöte) sang sie am Aalto-Theater in Essen und in Japan. Neben Kompositionen von Helmut Lachenmann setzt sie sich auch für weitere Komponisten des 20./21. Jahrhunderts ein, darunter Arnold Schönberg, Anton Webern, Luigi Nono, Toshio Hosokawa und Wolfgang Rihm. Mit der Pianistin Yukiko Sugawara gastierte sie in Japan und beim Lucerne Festival. In der Saison 2019/20 singt sie u.a. die Königin der Nacht am Theater Heidelberg und gastiert beim Festival «November Music» in Holland, bei «Wien Modern» und beim Tokyo Symphony Orchestra.
Yukiko Sugawara, Erstes Klavier
Yukiko Sugawara
Yukiko Sugawara stammt aus Japan. Sie studierte Klavier am Toho-Musik Colleg in Tokyo bei Aiko Iguchi. In Deutschland setzte sie ihr Studium bei Hans Erich Riebensahm in Berlin und bei Aloys Kontarsky in Köln fort. Sie gewann mehrere internationale Preise, darunter den Kranichsteiner Musikpreis. Seither konzertierte sie auf vielen europäischen Festivals, so u.a. bei den Donaueschinger Musiktagen, beim ECLAT-Festival Stuttgart, beim Holland Festival, den Berliner Festwochen, März Musik in Berlin, dem Festival dʼAutomne à Paris, dem Warschauer Herbst, den Salzburger Festspielen, Ars Musica Brüssel, Musicadhoy Madrid und beim AVANTI!-Festival in Finnland. Als Solistin hat sie mit Dirigenten wie Pierre Boulez, Sylvain Cambreling, Peter Eötvös, Peter Hirsch, Lothar Zagrosek, Hans Zender, Peter Rundel, Baldur Brönnimann und Emilio Pomárico konzertiert. Als Kammermusikerin ist sie in unterschiedlichsten Formationen tätig. Zahlreiche Werke wurden für sie geschrieben. International geht sie einer intensiven Lehrtätigkeit nach. Von 2003 bis 2005 hatte sie eine Gastprofessur für Klavier und Kammermusik an der Musikhochschule Saarbrücken inne. Zahlreiche Aufnahmen mit Yukiko Sugawara erschienen bei den unterschiedlichsten Labels. Ihre Einspielung von Helmut Lachenmanns Serynade erhielt den Preis der Deutschen Schallplattenkritik.
Tomoko Hemmi, Zweites Klavier
Tomoko Hemmi
Tomoko Hemmi stammt aus Japan. Ihr Klavierstudium absolvierte sie an der Musikhochschule Stuttgart bei Fernande Kaeser und André Marchand. Europaweit tritt sie regelmässig bei den bedeutenden Festivals für neue Musik auf, u.a. bei den Darmstädter Ferienkursen, dem Akiyoshidai Festival und den Donaueschinger Musiktagen. Neben Hemmis solistischer und kammermusikalischer Tätigkeit verbindet sie auch mit zahlreichen zeitgenössischen Komponisten eine enge Zusammenarbeit. Bereits in der Stuttgarter Inszenierung von Helmut Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern übernahm sie den Klavierpart. Zu Tomoko Hemmis umfangreichen CD-Publikationen zählt u.a. die Einspielung des Klavierwerks von Mark Andre.
Mayumi Miyata, Shō
Mayumi Miyata
Mayumi Miyata gehört zu den international renommiertesten Interpretinnen der japanischen Mundorgel Shō. 1997 war sie an der Uraufführung von Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern an der Hamburgischen Staatsoper beteiligt. Anschliessend übernahm sie diesen Part in Produktionen des Staatstheaters Stuttgart, der Opéra de Paris, der Ruhrtriennale, der Deutschen Oper Berlin und der Suntory Hall in Tokio. Neben der traditionellen japanischen Hofmusik «Gagaku» interpretiert Mayumi Miyata vor allem zeitgenössische Kompositionen, u.a. von John Cage, Toru Takemitsu, Toshio Hosokawa und Gerhard Stabler. Sie ist regelmässiger Gast bei internationalen Festivals und arbeitete mit Dirigenten wie Seiji Ozawa, André Previn, Vladimir Ashkenazy, Kazushi Ono und der isländischen Sängerin Björk zusammen. Bei der Eröffnung der Olympischen Winterspiele 1998 in Nagano spielte sie auf ihrem Instrument die japanische Nationalhymne.